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Annalena Baerbock und Robert Habeck? Im Licht der Kanzlerschaft betrachtet ist dies keine Frage.

© imago images/Jens Schicke

Grüne und Kanzlerschaft: Die Farce einer Habeck- oder Baerbock-Kür

Spart euch das - oder: Warum die Grünen ganz grundsätzlich irren, wenn sie mit Kanzlerkandidatennamen liebäugeln. Ein Gastbeitrag.

Norbert Kostede und Helmut Wiesenthal sind Sozial- und Politikwissenschaftler und waren in den 1980er Jahren Mitglieder im Bundesvorstand der Grünen Partei.

Was genau ein „Kanzlerkandidat“ ist und was dagegen ein „Kanzlerkandidatenkandidat“, lässt sich leicht am Beispiel des Zweiparteiensystems begreifen. Von einem solchen System spricht man bekanntlich, wenn sich zwei Parteien mehr oder weniger periodisch in den Regierungsgeschäften abwechseln und so monopolistischen Machtmissbrauch verhindern helfen. Dieses System und die ihm zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten werden in der Politikwissenschaft nach ihrem Begründer als „Duvergers Gesetz“ benannt.

Der gewünschte Effekt von Regierungswechseln kommt nur dann zustande, wenn es überschaubar wenige Konfliktlinien in der Gesellschaft gibt, darunter aber einen Gegensatz, der alle anderen überformt, typischerweise der zwischen Arm und Reich. Wo dies der Fall ist, wo die „soziale Frage“ alles dominiert, lassen sich politische Polarisierungen und Parteibildungen auf „Links gegen Rechts“ vereinfachen.

Über die Sinnhaftigkeit von Zweiparteiensystemen zu diskutieren, ist an dieser Stelle nicht nötig. Der Renovierungsrückstau in den Geburtsländern der modernen Demokratie, etwa den Vereinigten Staaten und Großbritannien, führt vor Augen, wie rasch der Unsinn auf Kosten des Sinns wachsen kann. Zwar sagt sich der Realist, dass Zweiparteiensysteme allemal besser sind als Einparteiensysteme; der Skeptiker jedoch weiß, dass ihr zivilisierender Vorsprung derzeit rasant schwindet .

Vorwitzige Öffentlichkeit

Das politische System der Bundesrepublik Deutschland war in keiner Phase ein reines Zweiparteiensystem. Als solches ließe es sich allein in der Vorwahlkampfzeit bezeichnen. In dieser Phase wurde mit der Bezeichnung „Kanzlerkandidat“ der Spitzenkandidat der zwei großen Volksparteien bedacht; SPD und Union gaben damit den Wählern zu verstehen, dass ihre Bundestagsfraktion diesen Kandidaten im neu zu konstituierenden Bundestag zum Kanzler wählen will.

In der vorwitzigen Öffentlichkeit werden „Kandidatenkandidaten“ natürlich vorzeitig gehandelt. Sie müssen auf die tatsächliche Berufung durch ihre Partei noch warten. Manchmal etwas länger. Die kleineren Parteien dagegen verzichteten bisher meist auf die Benennung eines eigenen Kanzlerkandidaten – ob aus Scham oder Realitätssinn.

Sie beschränkten sich auf die Rolle der „Mehrheitsbeschaffer“, wenn es der gewünschte große Partner zu keiner absoluten Mehrheit gebracht hatte. Dieser Logik entsprechend gestaltete sich auch das Mediensystem. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen durften, was die großen „Kandidaten-Streitgespräche“ angeht, zwei Spitzenpolitiker florettieren. Und auch in den Printmedien wurde entsprechend gewichtet.

„Duvergers Gesetz“ und die von ihm beschriebene Praxis sind häufig genug kritisiert worden. Hier reicht der Hinweis, dass in fast allen demokratisch regierten Ländern neben Arm und Reich weitere Konfliktlinien – konfessioneller, regionaler, ethnischer oder kultureller Art – in einer Größenordnung hinzukommen und polarisieren, was bei einer einfachen Links-rechts-Konkurrenz nur unzureichend artikuliert wird.

Niedergang der Sozialdemokratie

Hierzulande sind es zunehmend die großen ökologischen, klima- und umweltpolitischen Streitfragen, die allzu einfache Polarisierungen hintertreiben. Sichtbar wurde das überholte Konzept des Zweiparteiensystems insbesondere durch den Niedergang der Sozialdemokratie. Obwohl gegenwärtig nur noch drittstärkste Kraft, hat sie mit Olaf Scholz bereits einen Kanzlerkandidaten präsentiert.

Hinter dieser nonchalanten Augenwischerei, was die eigene Stärke betrifft, verbirgt sich vermutlich das taktische Kalkül, durch die zu erwartenden Aufmerksamkeitsvorteile in den Medien doch noch als Zweiter über die Ziellinie laufen zu können.

Auch die Christlich-Demokratische Union, als letztverbliebene Volkspartei von Grünen, Liberalen und Rechtspopulisten in die Zange genommen, sinkt immer deutlicher unter die konstitutionell vorgegebene Hürde der absoluten Mehrheit ab. Setzt sich dieser Trend auch in Corona-Zeiten fort, wird die traditionelle Praxis der Kür zweier Kanzlerkandidaten zur Farce verkommen.

Sollen sich die Grünen an diesem eher quälenden als unterhaltsamen Zwischenspiel beteiligen? Sollen sie dafür einen eigenen Kandidaten, eine eigene Kandidatin fürs Kanzleramt aufstellen? Obwohl die beiden meistgenannten grünen Kandidatenkandidaten, Annalena Baerbock und Robert Habeck, für das Amt eines Bundeskanzlers persönlich wie fachlich qualifiziert sind, täte die Partei gut daran, auf solch eine Benennung zu verzichten.

Das bleibt aber wahrscheinlich ein frommer Wunsch. Denn innerparteilich und auch in den Medien sind längst die Federn gespitzt und die Laptops hochgefahren. In den kommenden Wochen werden uns zahllose Kunststückchen zum taktischen wie strategischen Pro und Kontra aufgetischt werden: Warum der, warum die, warum jetzt oder wann oder nie…

Bescheidenheit in Amtsansprüchen

Wir wollen es hier bei einem einzigen Kontra-Argument belassen, wobei wir dennoch mit einem zweiten kurz liebäugeln wollen: nämlich dem von „Bescheidenheit in Amtsansprüchen“. Eine solche Bescheidenheit dürfte vom Wähler honoriert werden. Da sie in der Werteskala der Politik selbst aber nicht gleich hoch rangiert, können wir diesen Hinweis rasch wieder vergessen.

Was für die Grünen wie für ihre Unterstützer wirklich zählen dürfte, lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Ein klimaneutrales Deutschland ist ihnen weitaus wichtiger als die Frage, ob der Kanzler Habeck oder eine Kanzlerin Baerbock heißen soll. Eine Position, die man auch so formulieren kann: standhaft in Sachfragen, entspannt und flexibel in Personalfragen!

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Die Grünen, ihre Mitglieder, ihre Wähler und möglichen Unterstützer außerhalb der Parlamente, gegenwärtig rund ein Fünftel der Gesellschaft, sind auf absehbare Zeit ein demokratisches Korrektiv, keine Kanzlerpartei. Sie müssen sich mit solchen gesellschaftlichen Kräften und politischen Parteien verbinden, die sie aufgrund ihrer wachsenden parlamentarischen Macht und außerparlamentarischen Unterstützung unter Druck setzen können.

Druck, der dafür sorgt, dass ökologische Maßnahmen oder Projekte nicht beständig hinter den Erhalt überkommener Arbeitsplätze platziert werden, hinter den Erhalt überholter Technologien, hinter eine zu erhaltende internationale Konkurrenzfähigkeit etablierter, gleichwohl altersschwacher Industrien. Dazu muss man nicht auf grüne Kanzler warten. Und schon gar nicht in die ablenkende Prioritätenfalle „Personal- vor Sachthemen“ laufen.

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