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Friedrich Merz beim Verlassen seines Büros

© IMAGO/Bernd Elmenthaler/IMAGO/ESDES.Pictures, Bernd Elmenthaler

Die Gescheiterten: Ein Tag im Bundestag, an dem alle verlieren

Eine Migrationswende mit der AfD? Stundenlang verhandelten die Fraktionschef der demokratischen Parteien, um das zu verhindern. Vergeblich. Es folgte eine Debatte, die alle beschädigt.

Als sich die Spannung des Tages entlädt, bleibt es seltsam still unter der Kuppel des Reichstagsgebäudes. Um 17.12 Uhr verkündet Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) das Abstimmungsergebnis: 338 Abgeordnete haben für das „Zustrombegrenzungsgesetz“ votiert, 349 sind dagegen. Unionsfraktionschef Friedrich Merz fehlen zwölf Stimmen. Er bekommt die von ihm geforderte Asylwende nicht mit Hilfe der AfD durch den Bundestag.

Mit eindringlichen Worten haben SPD und Grüne Merz den ganzen Tag vor diesem Schritt gewarnt. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich forderte ihn in der Debatte zuvor auf, dieses „Tor zu Hölle“ gemeinsam wieder zu schließen. Doch in dem Moment, in dem Merz‘ Plan scheitert, ist auch bei den Regierungsfraktionen keine Freude zu sehen. Nur ganz links am Rand des Plenums jubeln die Abgeordneten der Linken. Denn auch den Abgeordneten von SPD und Grünen ist bewusst, dass dieser Tag, diese teils hasserfüllte Debatte allen demokratischen Parteien der Mitte geschadet hat.

Der Tag, der in die Annalen der jüngeren deutschen Demokratiegeschichte eingehen dürfte, beginnt um 8 Uhr mit einer morgendlichen Absprache der Unionsfraktion. Die Abgeordneten stehen noch unter dem Eindruck des Vorabends, als nicht nur große Demonstrationen vor den Parteizentralen der CDU in Berlin und der CSU in München stattfanden, sondern im ganzen Land Menschen gegen die Zusammenarbeit von CDU und AfD auf die Straße gingen. Auch zahlreiche Kreisgeschäftsstellen im ganzen Land wurden attackiert und besetzt.

Friedrich Merz ist vor dem Bundestag mit einem Transparent empfangen worden, das seinen Namen mit dem Wort „Schande“ verknüpft. Er geht vor seinen Leuten auf die Empörung ein, die auf seine CDU niedergeht, seit am Mittwoch bei einem Antrag der Union im Bundestag erstmals eine Mehrheit allein aufgrund rechtsextremer Stimmen zustande kam. Nun aber geht es um ein Gesetz, ist die Tragweite noch einmal größer.

Teilnehmern zufolge bleibt Merz inhaltlich beim Anliegen, die Migrationspolitik nach den Anschlägen von Aschaffenburg und Magdeburg deutlich zu verschärfen: „Wir müssen diesen Sturm jetzt aushalten.“

Das hört sich souverän an, Merz‘ Leute haben in den vergangenen Tagen schließlich immer wieder betont, dass parteiintern alle Szenarien durchgespielt und vorbereitet wurden. Längst aber geben auch viele Christdemokraten hinter vorgehaltener Hand zu, dass das Ausmaß der Entrüstung im Land völlig unterschätzt worden ist.

Die Tagesordnung wird völlig durcheinander gewirbelt

Die Strategen im Adenauerhaus, die das natürlich bestreiten, haben ihre Rechnung an diesem Morgen aber ohne die FDP gemacht. Auch bei den Liberalen, die am Mittwoch ebenfalls mit AfD und Union gestimmt haben, brennt politisch die Hütte. Es kursieren Gerüchte, an diesem Freitag könnte es bei der angesetzten Abstimmung über das „Zustrombegrenzungsgesetz“ in der kleinen liberalen Fraktion mehr „Abweichler“ geben als bei der viel größeren Union.

Um kurz nach neun Uhr werden die Karten dann noch einmal ganz neu gemischt. Die Fraktionschefinnen der Grünen, Britta Haßelmann und Katharina Dröge, führen gerade ein Hintergrundgespräch mit Journalisten, als FDP-Fraktionschef Christian Dürr die geplante Tagesordnung durcheinander wirbelt.

FDP-Fraktionschef Christian Dürr teilt mit, dass seine Partei den Gesetzesentwurf in den Innenausschuss zurücküberweisen will.

© IMAGO/Bernd Elmenthaler/IMAGO/ESDES.Pictures, Bernd Elmenthaler

Auf der anderen Seite des Flures im dritten Stock des Reichstagsgebäudes teilt er zur Überraschung der anderen Fraktionen mit, dass die Liberalen das Zustrombegrenzungsgesetz in den Innenausschuss zurücküberweisen wollen. Bis zu diesem Moment rechneten alle damit, dass das Gesetz mit den Stimmen von Union, FDP, AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht beschlossen wird. Gibt es nun doch noch die Möglichkeit für eine Einigung unter den demokratischen Parteien?

Es ist 10:58 Uhr, als Bundestagspräsidentin Bärbel Bas die zweite und dritte und damit abschließende Lesung aufruft. „Über den Gesetzentwurf werden wir später namentlich abstimmen“, kündigt sie an, 68 Minuten seien für die Debatte vorgesehen. Dann bittet Thorsten Frei, der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, um das Wort. Aus dem Plenum fragt er nach einer 30-minütigen Unterbrechung für eine Fraktionssitzung. Bas kommt dieser Bitte nach.

Bei 30 Minuten wird es nicht bleiben. Während die Unionsfraktion tagt und Beifall aus dem Fraktionssaal zu hören ist, herrscht nebenan im Büro von Fraktionschef Merz ein Kommen und Gehen. Union und FDP hatten schon geredet. Nun ist der SPD-Fraktionsvorsitzende Mützenich zu Gast. Der zuweilen aufbrausende Sauerländer Merz und der ruhige Rheinländer Mützenich könnten politisch kaum unterschiedlicher ticken, aber die beiden verband in den letzten Jahren ein persönliches Vertrauensverhältnis.

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich bittet Friedrich Merz: „Kehren Sie um“.

© imago/Metodi Popow/IMAGO/M. Popow

Seit Mittwoch, seit der gemeinsamen Abstimmung von Union und AfD, ist dieses Vertrauensverhältnis passé. Mützenich sei tief enttäuscht von Merz, heißt es in der SPD. Er hat am Dienstag auch öffentlich Merz‘ Eignung als Kanzler infrage gestellt. „Kehren Sie um, Herr Merz!“, wird Mützenichs flehentliche Bitte später in der Debatte lauten.

Kehren Sie um, Herr Merz!

Rolf Mützenich, SPD-Fraktionsvorsitzender

An diesem Freitagmittag sitzen die beiden Fraktionschefs trotzdem wieder zusammen. Merz will, dass die SPD auf den Unionsantrag einschwenkt, Mützenich will das so nicht zulassen. Außerdem verlangt er eine Entschuldigung von Merz für den „Sündenfall“ vom Mittwoch.

Die Gespräche sind Teil hektischer Abstimmungsrunden. Auf der Fraktionsebene rennen über Stunden Kameraleute zwischen Fraktionssälen und dem Büro des Unionsfraktionschef hin und her.

Was will Merz? Wird er den Ausweg nehmen, den ihm die Liberalen gewiesen haben? Am Vortag ist die Idee einer Ausschussüberweisung in der CDU-Führung schon diskutiert worden – da hat Merz sie nach Tagesspiegel-Informationen verworfen. Seine Abgeordneten sind in der Frage gespalten.

Die einen hoffen noch auf eine Last-Minute-Einigung in der demokratischen Mitte, die anderen darauf, dass ihr Fraktions- und Parteichef durchzieht und nicht erneut die Glaubwürdigkeit der neuen Migrationspolitik der Union untergräbt, indem er sich auf weiche Kompromisse mit Roten und Grünen einlässt.

Eines eint die beiden Lager, die Irritation darüber, wie wenig strategisch vorbereitet die eigene Spitze ist, die doch angeblich alles ganz genau bedacht haben will. Erst einmal herrscht Ratlosigkeit. Hat Merz die Lage noch im Griff, er, der doch Kanzler werden will? Gehen ihm bei einer etwaigen Abstimmung sogar noch mehr christdemokratische Abgeordnete von der Fahne als am Mittwoch? Auf die Tagesspiegel-Frage, ob er noch der richtige Kanzlerkandidat sei, reagiert Merz im Vorbeigehen auf dem Weg in die nächste Verhandlungsrunde nicht.

31.01.2025

Während Merz, Dürr und FDP-Chef Christian Lindner in Merz‘ Büro verhandeln, bringt eine Mitarbeiterin einen Teller mit Keksen. Es könnte offenbar länger dauern. Dann wird Pressevertretern mit der Bundestagspolizei gedroht, wenn sie den Bereich vor dem Büro nicht verlassen, wo am Vormittag noch haufenweise Journalisten standen. Die Nerven liegen blank.

Um kurz vor 14 Uhr wird klar, dass es FDP-Fraktionschef Dürr vorbehalten sein wird, das Ergebnis der mehr als dreistündigen Gesprächsrunden zu verkünden. Er, der sich in dieser Frage als „Brückenbauer“ zwischen den völlig zerstrittenen Unionisten auf der einen und SPD und Grünen auf der anderen Seite versteht.

Der Rettungsversuch scheint misslungen

Als Dürr vor die Presse tritt, verrät seine Miene schnell, dass der Rettungsversuch für die politische Mitte misslungen ist. Er habe „wirklich alles versucht“, sogar angeboten, dem rot-grünen Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Asylrechtsreform zuzustimmen, was aber abgelehnt worden sei: „SPD und Grüne haben aus der Regierung heraus auf Fundamentalopposition geschaltet“. Im Ergebnis wird nun abgestimmt wie ursprünglich geplant.

Das Scheitern der Gespräche, die Unversöhnlichkeit innerhalb des demokratischen Lagers prägt die Debatte, die unmittelbar danach beginnt. Mützenich macht mit seiner Erwartung, dass Merz das „Tor zur Hölle“ wieder schließen möge, den Anfang.

„Dieser Entschließungsantrag ist und bleibt in der Sache richtig“, sagt Merz mit Blick auf den Eklat am Mittwoch. Er findet es ungerecht, dass aus einem Mitstimmen der AfD bei einem Antrag der Union eine Zusammenarbeit „konstruiert“ worden sei: „Von meiner Partei aus reicht niemand der AfD die Hand“, erklärt er: „Sie will die CDU vernichten.“

Dass Männer, wenn sie nicht mehr weiterwissen, mit dem Wort Lüge um sich werfen, bin ich ja schon gewohnt.

Annalena Baerbock (Grüne), Außenministerin

Grünen-Chef Felix Banaszak fragt direkt bei Merz nach: „Schließen Sie aus, dass Sie oder jemand anderes aus ihren Reihen sich bei der Wahl des Bundeskanzlers mit den Stimmen der AfD wählen lässt?“ Der CDU-Vorsitzende sagt, er wolle sich auf dieses Niveau nicht einlassen, das habe er schon mehrfach versichert. Er tut es am Ende noch einmal – er werde sich nicht von der AfD an die Regierung bringen lassen. 

„Was kommt als Nächstes?“, fragte Annalena Baerbock in Richtung der CDU-Fraktion.

© imago/Metodi Popow/IMAGO/M. Popow

Aber auch Außenministerin Annalena Baerbock nährt diese Zweifel, die Merz am Mittwoch gesät hat. „Was kommt als Nächstes?“, fragt Deutschlands grüne Chefdiplomatin. Bei den Grünen fürchten sie, Merz könne nach der Wahl eine schwarz-gelbe Minderheitsregierung anstreben, die von der AfD toleriert wird.

Für die Union keilt der parlamentarische Geschäftsführer Thorsten Frei zurück. „Sie wollen keine Ordnung, Sie wollen keine Steuerung und auch keine Begrenzung der Migration“, sagt Frei, der Baerbock „Lügengeschichten“ vorhält. Die kontert: „Dass Männer, wenn Sie nicht mehr weiterwissen, mit dem Wort Lüge um sich werfen, bin ich ja schon gewohnt.“ Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge sieht ihrerseits bei Union und FDP keine Verhandlungsbereitsschaft. Sie behauptet, die FDP habe bereits angekündigt, dass Zustrombegrenzungsgesetz halt notfalls doch mit der AfD zu beschließen. Vor allen Verhandlungen fordern die Grünen zunächst eine Zusage, dass die Brandmauer wieder steht.

Unmittelbar vor der Abstimmung stellt Dröge trotzdem ihrerseits den Antrag, das Zustrombegrenzungsgesetz zurück in den Innen-Ausschuss zu verweisen. Er wird abgelehnt. Dann wird abgestimmt. Um 17.12 Uhr verkündet Petra Pau dann die Überraschung des Tages.

Der Einsatz der FDP-Fraktionsführung hat die eigenen Abweichler nicht davon überzeugen können, mit der AfD abzustimmen. Insgesamt 23 Abgeordnete stimmen dem Gesetz nicht zu, darunter prominente Namen. In der Union stimmen zwölf Abgeordnete nicht zu, mit ihren Stimmen hätte Merz eine Mehrheit für sein Gesetz gehabt. Dennoch geht Merz in einer ersten Reaktion auf die Liberalen los: „Die FDP hat Migrationswende mitverhindert“, sagt er.

Merz hat durchgezogen und doch verloren – es ist der „Super-GAU“ für ihn, über den im Verlauf des Tages schon spekuliert worden ist. Doch Merz gibt sich gelassen. „Ich bin mit mir persönlich sehr im Reinen, dass wir es wenigstens versucht haben“, sagt er.  

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