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Für Hilfe hier entlang: Die Aufnahme von Geflohenen aus der Ukraine in Berlin.

© IMAGO/A. Friedrichs

Die Kommunen und die Geflüchteten: „Uns fehlt für den Winter jede verlässliche Prognose“

Am Dienstag spricht Bundesinnenministerin Faeser mit den kommunalen Spitzenverbänden zum Thema Geflüchtete. Der Präsident des Landkreistags über seine Forderungen.

Herr Sager, große Städte wie Berlin genauso wie ländliche Gegenden haben enorme Schwierigkeiten, alle eintreffenden Geflüchteten zu versorgen. Am Dienstag tagt die Bundesinnenministerin mit den kommunalen Spitzenverbänden, mehrere Bundesländer sind verärgert, nicht mit am Tisch zu sitzen. Finden Sie die Zusammensetzung des Treffens sinnvoll?
Wir nehmen das Gesprächsangebot von Frau Faeser selbstverständlich gern an, und da die drei Innenminister aus Bayern, Niedersachsen und Hessen teilnehmen, ist auch ein Scharnier zur Länderebene gegeben. Aber wir sind dezidiert der Auffassung, dass das Thema angesichts der Größe der Probleme Kanzlerangelegenheit sein muss.

Am 1. April hat Olaf Scholz Ländern und Kommunen einen nächsten Gipfel für November zugesagt, bisher gibt es aber noch keine Einladung. Wir fordern, dass zügig ein echter Gipfel von Bund, Ländern und Kommunen anberaumt wird. Auch andere Ressorts wie etwa Arbeits- und Gesundheitsministerium müssen mit an den Tisch, denn die Herausforderungen betreffen viele Bereiche. Das Problem ist da, und es wird von Tag zu Tag größer.

Wie ist die Situation in den Kommunen im Moment?
Aus Landkreisen erreichen mich bundesweit Meldungen, dass es immer schwieriger wird, noch Kapazitäten zu finden, um Menschen unterzubringen. Wir stoßen jetzt tatsächlich an Grenzen. Feldlager oder Turnhallen sind keine Ideallösung, wenn Herbst und Winter hereinbrechen, weder für die Menschen, die untergebracht werden müssen, noch für alle anderen, die dann zum Beispiel auf ihr Sporttraining verzichten müssen. Auch wenn es ums Heizen geht, sind Hallen eine sehr ineffiziente Lösung. Und es ist derzeit sogar schwierig, auf dem Markt überhaupt noch Container kaufen oder mieten zu können.

Mit welchen Forderungen gehen Sie als Repräsentant der 294 deutschen Landkreise in das Treffen mit der Innenministerin?
Wir als Kommunen brauchen mehr Unterstützung bei der Erstaufnahme, sowohl von den Ländern als auch vom Bund. Zum Stichwort Bundesimmobilien habe ich noch gar nichts gehört, da muss dringend etwas passieren.
Außerdem fordern wir, dass der Bund alle flüchtlingsbedingten Mehrkosten trägt. Das betrifft insbesondere die Kosten der Unterkunft: Derzeit tragen die Kommunen diese zu einem Drittel.

Wir fordern, dass der Bund die Kosten rückwirkend ab Jahresbeginn vollständig übernimmt, wie es bis Ende 2021 schon einmal der Fall war. Auch die Gesundheitskosten belasten die Kommunen stark, sie haben sie für diejenigen Geflüchteten zu tragen, die nicht arbeitsfähig sind.

Da kommen im Einzelfall schnell sehr hohe Summen zusammen, wenn Kranke, Versehrte und Verletzte hier Schutz suchen. Von Bundesland zu Bundesland ist es ganz unterschiedlich, wie stark die Kommunen belastet sind. Wir fordern, dass grundsätzlich der Bund diese Lasten stemmen sollte.

Nancy Faeser (SPD), Bundesinnenministerin

© Foto: dpa/Wolfgang Kumm

Der Bund nimmt derzeit auf diversen Problemfeldern Milliardensummen in die Hand, von der Verteidigung bis zu den Energiepreisen. Warum sollten nicht auch die Kommunen einen Teil der Kosten tragen?
Wir sind verpflichtet, die Menschen aufzunehmen, aber die Rahmenbedingungen werden auf Bundesebene gesetzt. Daher hat der Bund die Folgen zu tragen, alles andere wäre nicht sachgerecht. Außerdem bleiben ohnehin erhebliche Kosten bei den Kommunen hängen, etwa für Personal, das ist gar nicht anders möglich. Die Länder bringen zum Teil beachtliche Summen auf, um ihren Teil gegenüber der kommunalen Ebene zu leisten.

Deutschland diskutiert viel unter dem Aspekt der Kosten und Lasten. Aber welche Wahl bleibt den Menschen, wenn sie sich vor der Aggression eines Wladimir Putin in Sicherheit bringen müssen?
Wir sind der Humanität verpflichtet, das ist eine Selbstverständlichkeit. Menschen, die vor Bomben und Terror fliehen, brauchen Schutz, das steht vollkommen außer Frage. Aber bei aller grundsätzlichen Hilfsbereitschaft geht es immer auch um die Modalitäten.
Beispielsweise bekommen Geflüchtete aus der Ukraine seit Juni Arbeitslosengeld II statt der niedrigeren Sätze nach Asylbewerberleistungsgesetz.

Als die Regel in Kraft trat, war die Zahl der Geflohenen zahlenmäßig überschaubar, und es war nicht absehbar, dass dieser Krieg nicht kurz- oder mittelfristig enden wird. Das ist beides nun anders, und deshalb sollte diese Entscheidung überdacht werden. Die Akzeptanz in der Gesellschaft für die Hilfe hochzuhalten ist schon schwer genug. Das sollten wir eher erleichtern als es zu erschweren.

Nach Kriegsbeginn war die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung immens. Wie sehr können Sie vor Ort jetzt noch auf die Unterstützung von Privatleuten bauen?
Engagement aus der Zivilgesellschaft hat uns bei Kriegsbeginn unglaublich geholfen. Aber jetzt bröckelt das. Die Leute brauchen zum Beispiel ihren Wohnraum nun auch wieder selbst. Das kann ich den einzelnen nicht zum Vorwurf machen, der Staat muss stattdessen dankbar sein, dass es so viel Hilfe gab.

Ist die Zuwanderung angesichts des Fachkräftemangels nicht auch eine Chance für Deutschland?
Ein Teil der Menschen aus der Ukraine kann in den deutschen Arbeitsmarkt integriert werden. Das ist aber nicht der Sinn der Maßnahme, sondern eher ein Nebeneffekt. Es kommen ja auch unzählige Frauen mit kleinen Kindern und Ältere, die dem Arbeitsmarkt gar nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. 

Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene bei dem Thema?
EU-weit kommen Geflüchtete hauptsächlich aus der Ukraine und über die Balkanroute. Numerisch wären beide Zugangswege zusammen für die gesamte EU mit ihren 450 Millionen Einwohnern kein größeres Problem. Aber die Verteilung ist eben nicht gleichmäßig. Die Bundesregierung muss das Thema dringend auf die europäische Tagesordnung setzen, damit es endlich eine abgestimmte Flüchtlingspolitik gibt. Polen schultert einen großen Teil der Aufgabe, die Menschen aus der Ukraine zu versorgen, das darf man nicht vergessen. Aber es reisen viele Menschen nach Deutschland weiter, die in anderen EU-Staaten schon sicher waren vor Bomben und Terror. Das hat damit zu tun, dass bei uns das Niveau der Sozialleistungen hoch ist.

Am Montag meldete die Ukraine russischen Beschuss auf Städte im ganzen Land, es gab Tote und Verletzte. Mit welcher Entwicklung der Zahlen rechnen Sie für die kommenden Monate?
Man muss sich darauf einstellen, dass es mehr wird. Und dass wir mit Polen an Lösungen arbeiten müssen, etwa grenznahen großen Unterbringungskapazitäten - auch weil viele Menschen gar nicht dauerhaft ihre Heimat verlassen wollen. Die furchtbaren Bombenangriffe am Montag lassen nichts Gutes erahnen. Und über die Balkanroute haben wir ebenfalls 35 Prozent mehr Ankommende als im letzten Jahr. Unterm Strich fehlt uns für den Winter jede verlässliche Prognose.

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