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Im Sommer 2016 kamen Tausende nach Köln, um Erdogan zuzujubeln. Doch Kenner der türkischen Community halten seinen Einfluss auf die Türken in Deutschland für begrenzt.

© Henning Kaiser/dpa

Nach Erdogans Wutrede: "Die Mehrheit lässt sich nicht von Ankara bevormunden"

Keine Stimme für CDU, SPD und Grüne? Wer die Community kennt, meint: Erdogans Appell dürfte türkeistämmige Wähler kaltlassen.

Türkeistämmige Politikerinnen und Kenner der türkischen Community in Deutschland glauben nicht, dass der türkische Staatspräsident Erdogan die Wahl in Deutschland in seinem Sinne beeinflussen kann. Erdogans Boykottaufruf sei „unmöglich, auch weil er von einem Staatsoberhaupt kommt“, sagte die nordrhein-westfälische Staatssekretärin für Integration Serap Güler (CDU) dem Tagesspiegel. Das werde aber "unter seinen Gegnern, und das seien ja nicht wenige, eher eine Trotzreaktion auslösen: 'Wir lassen uns nicht in unser Leben hineinregieren, jetzt wählen wir erst recht'", sagte sie. Das höre sie auch von türkischen Migranten, die sich bisher eher wenig für die Bundestagswahl interessierten. Ähnlich äußerte sich Gülers Parteifreundin Cemile Giousouf, die integrationspolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag, am Montag im Deutschlandfunk. Auch Aydan Özoguz (SPD), Staatsministerin für Integration im Bundeskanzleramt, zeigte Zuversicht: „Ein paar treue Anhänger werden ihm vielleicht folgen“, sagte sie am Wochenende, „aber die Mehrheit der in Deutschland lebenden Türken wird es ablehnen, sich aus Ankara bevormunden zu lassen.“

Konservativ denken, links wählen

Der türkische Staatspräsident hatte die gespannten Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei in der vergangenen Woche mit seinem Boykottaufruf einer weiteren Belastungsprobe unterzogen. Nach dem Freitagsgebet hatte er in Istanbul SPD und CDU vorgeworfen, sie machten Stimmung gegen die Türkei. „Ich rufe daher alle meine Bürger in Deutschland auf, sie niemals zu unterstützen. Weder die CDU, noch die SPD oder die Grünen. Sie sind alle Feinde der Türkei“, sagte Erdogan. Dies sei „eine Frage der Ehre“. Linke, FDP und AfD nannte er nicht, obwohl auch sie seiner Regierung kritisch gegenüberstehen. Die Türkische Gemeinde in Deutschland und Vertreter der kurdischen Minderheit zeigten sich über Erdogans Aufruf empört. Er wolle „der deutschen Demokratie schaden und die deutsche Gesellschaft spalten“, sagte TGD-Vize Atila Karabörklü.
Die wenigen Daten, die es bisher über die Wahlmotive und bevorzugten Parteien Türkeistämmiger gibt, deuten tatsächlich darauf hin, dass Erdogan eine Beeinflussung nicht gelingen dürfte. Eine Studie des unabhängigen „Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration“ fand letztes Jahr heraus, dass die Mehrheit nicht nach ideologischen Vorlieben entscheidet – oder entscheiden würde, wenn sie einen deutschen Pass hätte –sondern pragmatisch. Wesentlich ist, bei welchen Parteien die Deutschtürken ihre besonderen Interessen als Migranten in Deutschland aufgehoben sehen, fand das Forscherteam heraus. Obwohl die türkische Community als mehrheitlich konservativ gilt, bevorzugen Türkinnen und Türken in Deutschland mit haushoher Mehrheit Parteien links der Mitte. Die SPD kam in der SVR-Studie auf knapp 70 Prozent. Rechnet man die Sympathien für Grüne und Linke dazu, wählen fast neun von zehn Türkeistämmigen links – oder täten es, wenn sie die deutsche Staatsbürgerschaft hätten. Von den etwa 2,8 Millionen türkeistämmigen Menschen in Deutschland hatte 2016 die Hälfte den deutschen Pass.

Erdogans Aufruf "wenig durchdacht"

Die deutliche Parteipräferenz schien im April durch das Ergebnis des türkischen Verfassungsreferendums erschüttert: Die Deutschtürken sagten seinerzeit noch deutlicher Ja zu Erdogans neuer Verfassung als ihre Landsleute in der Türkei. Ihre Zustimmung lag bei 63 Prozent. Doch nicht einmal die Hälfte der 1,5 Millionen Deutschtürken, die die türkische Staatsbürgerschaft haben, ausschließlich oder zusätzlich zur deutschen, war überhaupt zur Wahlgegangen. Nach dem Referendum setzte eine heftige Debatte um die angebliche Demokratieferne deutscher Türken ein. Tatsächlich aber hatten nur 13 Prozent von ihnen Erdogans autoritäre Wende gewählt.
Das gibt der CDU-Fachfrau Giousouf Hoffnung, dass auch am Tag der Bundestagswahl türkeistämmige Wählerinnen und Wähler mit kühlem Kopf zur Urne gehen:Dass sich beim Referendum im April „nur eine Minderheit der in der Türkei wahlberechtigten Deutschtürken von Erdogan vor den Karren spannen ließ“, zeige, dass sein Einfluss auf sie geringer sei „als er denkt“, sagte Giousouf. „Ich bin mir sicher, dass auch bei der Bundestagswahl seine Bevormundung von einer Mehrheit abgelehnt wird.“
Auch der Leiter des Essener Zentrums für Türkeistudien, Haci-Halil Uslucan, erwartet eine pragmatische Entscheidung der Türkeistämmigen. „Der Boykottaufruf wird sich nicht auswirken“, sagte er. Und selbst wenn dies anders wäre: Erdogan ziele auf gerade einmal zwei Prozent der gesamten Wählerschaft, von der wiederum in der Regel nur 40 Prozent wählten. Unter den Parteien, die der Boykottaufruf ausnimmt, seien Linkenwähler sowieso klar gegen ihn „und FDP und AfD spielen für Türkeistämmige gar keine Rolle“. Entsprechend bliebe Nichtwählen als Zeichen, „was aber die CDU stärken würde“. Sehr durchdacht sei die Boykottpredigt aus Ankara also nicht, findet Uslucan: „Im Affekt gesagt und keine zwei Schritte weitergedacht - also letztlich nur Symbolpolitik."

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