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Der rote Blitz ist das Symbol der Protestbewegung.

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Die Wut der Frauen: Massenproteste gegen das Abtreibungsverbot in Polen

Zehntausende gehen in Polens Städten auf die Straße, um gegen das Abtreibungsverbot zu demonstrieren. Ihr Zorn bringt Kirche und Regierung in Bedrängnis.

In manchen politischen Siegen kündigt sich eine kommende Niederlage an. Sie mobilisieren die Gegner geradezu, ihren Misserfolg zu korrigieren.

Seit Tagen gehen in vielen Städten Polens Frauen auf die Straße, um gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts zu protestieren. Der „Strajk Kobiet“ (Streik der Frauen) erstreckt sich seit Mittwoch von Warschau über Danzig, Lodz, Posen und Stettin bis Nieder- und Oberschlesien.

Die Parolen sind eindringlich: „Hölle der Frauen“ und „Das bedeutet Krieg“ steht auf den Postern. Ein roter Blitz ist das Symbol der Bewegung. Dieses Wochenende soll zum Höhepunkt der „blutigen Woche“ der Proteste werden, freilich unter Corona-Auflagen, was Massendemonstrationen erschwert.

Die Ausläufer reichen bis nach Berlin, aus drei Gründe. Polen sind die zweitgrößte ethnische Minderheit der Stadt, sie haben eine Reihe sozialer Initiativen und Organisationen, die sich dem „Strajk Kobiet“ öffentlich anschließen.

Im Fokus steht Richterin Przylebska, Frau des Botschafters in Berlin

Zweitens hat hier die Person ihren quasi zweiten Wohnsitz, in der die Bewegung die Urheberin der Zuspitzung sieht: Julia Przylebska, Vorsitzende des Verfassungsgerichts, das die Verschärfung des Abtreibungsrechts mit einem Urteil im Oktober vorangetrieben hat, und Ehefrau des polnischen Botschafters in Berlin, Andrzej Przylebski. Vor der Dienstvilla gab es ebenfalls Proteste.

Drittens werden viele Polinnen, die eine Schwangerschaft abbrechen möchten, in Deutschland Hilfe suchen, wenn das verschärfte Abtreibungsverbot in Polen Bestand hat. Die Millionenstadt Berlin wird neben der Grenzstadt Frankfurt (Oder) zum Magneten, auch weil hier so viele polnische Anlaufstellen helfen. Offiziell gibt es etwas über tausend Abtreibungen pro Jahr in Polen, die tatsächliche Zahl wird auf 150.000 geschätzt, viele davon im Ausland.

Über Jahre hatte Parteichef Kaczynski den Konflikt gescheut

Warum die Proteste jetzt, Ende Januar, gegen ein Urteil, das im Oktober gesprochen wurde? Über Monate hatten die Gegnerinnen gehofft, dass Jaroslaw Kaczynski, Chef der Regierungspartei PiS, dem Konflikt ausweichen werde, wie er das schon mehrfach in den vergangenen Jahren getan hat, unter Zuhilfenahme erstaunlicher Manöver und Winkelzüge. Seit Jahren hatten sie mit fantasievollen Massendemonstrationen wie den Regenschirmprotesten immer dann, wenn es darauf ankam, erfolgreich mobilisiert und Kaczynski zum Nachgeben gezwungen.

Als ihren Feind betrachten die Demonstrantinnen Polens Regierungspartei PiS.
Als ihren Feind betrachten die Demonstrantinnen Polens Regierungspartei PiS.

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Kaczynski weiß, wie unpopulär die Ausweitung des Abtreibungsverbots ist, die die katholische Kirche und konservative Kräfte in der PiS seit langem fordern. Die Betreiber betrachten die Änderung des Rechts als Teil der Absprachen, die zum Wahlsieg des Parteienbündnisses PiS 2015 und der Verteidigung der Regierungsmacht in den folgenden Wahlen beigetragen haben. In den gut fünf Jahren seither brachten sie Gesetzesentwürfe in den Sejm ein; Kaczynski verzögerte sie. Sie organisierten Volksbegehren, um das Parlament zur Befassung zu zwingen; Kaczynski ließ sie liegen.

Das Urteil wurde lange nicht im Gesetzblatt veröffentlicht

Auch die erfolgreiche Klage beim Verfassungsgericht, so schien es über Monate, wollte Kaczynski offenbar aussitzen. Solange das Urteil nicht im Gesetzblatt veröffentlicht wird, ist es nicht bindend. In einem Rechtsstaat ist das eine höchst fragwürdige Methode, die Rechtsprechung zu ignorieren. Doch genau das hatte die PiS-Regierung schon im Konflikt um die Besetzung von Richterstellen an höchsten Gerichten getan. Am Mittwoch kündigte sie jedoch den Vollzug des Abtreibungsurteils an.

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Seit 1993 war der Schwangerschaftsabbruch in Polen nur noch nach Vergewaltigung, nach Inzest und Gefahr für die Gesundheit der Mutter straffrei - oder wenn eine schwere Schädigung des Fötus zu erwarten war. Die Wahrscheinlichkeit der Missbildung oder unheilbaren Krankheit des ungeborenen Kindes wurde in den Folgejahren zur häufigsten Indikation, in 98 Prozent der Fälle.

Deshalb wollten die Kirche und ihre politischen Verbündeten in der PiS diese Option streichen. Kaczynski hatte das aus ihrer Sicht zugesagt, dann aber nicht geliefert.

Verfassungsrechtler nennen das Vorgehen rechtswidrig

Im Herbst 2020 handelte das Verfassungsgericht. Seine Richterschaft hat inzwischen eine von der PiS betriebene Zusammensetzung. Es erklärte Abtreibungen, die aus Sorge vor Missbildungen des Fötus oder unheilbaren Krankheiten des Ungeborenen erfolgen, für verfassungswidrig.

Mehrere angesehene Verfassungsrechtler kritisieren die Abläufe, darunter auch der von der PiS ernannte Verfassungsrichter Jaroslaw Wyrembak. Die üblichen Beratungen seien verkürzt worden, es hätten Richter mit abgestimmt, deren rechtskräftige Berufung umstritten sei. In der Sitzung zur schriftlichen Begründung des Urteils sei ein vorgefertigter Text vorgelegt worden mit der Forderung, ihn so zu unterschreiben.

Der Kulturkampf spitzt sich zu

Der Kulturkampf, den Polen seit Jahren durchlebt, spitzt sich nochmals zu. Manche Kirchen stehen unter Polizeischutz. Wie die Demonstranten benutzt auch die Regierung Kriegsrhetorik. Die Proteste seien „ein Verbrechen“, behauptet Kaczynski. Die Demonstrantinnen hätten „dem Polentum den Krieg erklärt“.

Der Erzbischof von Krakau rückt die Symbole der Bewegung in die Nähe der SS-Runen unter Nazi-Besatzung. In Umfragen haben die katholische Kirche, die Regierung und die PiS derweil deutlich an Ansehen verloren.

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