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Politik: Ein böser Geniestreich

Ein gutes halbes Jahr ist es her. In Amerika saß der Schock über den 11.

Ein gutes halbes Jahr ist es her. In Amerika saß der Schock über den 11. September tief. Dann starb in Florida, knapp einen Monat nach den Attentaten, der Fotoredakteur Robert Stevens an einer äußerst seltenen Kankheit - Lungenmilzbrand. Rasch wurde aus dem Mysterium ein Verdacht und aus dem Verdacht die Gewissheit: Eine neue Welle des Terrors, heimtückischer noch und unberechenbarer, hat das Land erfasst. Bald wurden Briefe mit dem tödlichen Erreger gefunden. Sie waren an Kongressabgeordnete und Journalisten verschickt worden. Vier weitere Menschen starben, Dutzende erkrankten, Tausende wurden vorsorglich mit Antibiotika behandelt. Der Griff in den Briefkasten wurde zur Mutprobe.

Aber bis heute tappt die Bundespolizei FBI im Dunkeln. Kein Verdächtiger wurde verhaftet. Stattdessen überschlagen sich die Spekulationen. Wird absichtlich zu langsam ermittelt, um Geheimnisse über das US-Biowaffenprogramm zu vertuschen? Steckt vielleicht doch die Terrororganisation Al Qaida hinter den Anthrax-Attentaten? "Tod für Amerika. Tod für Israel. Allah ist groß", hatte in Blockhandschrift in einem Begleitschreiben der kontaminierten Briefe gestanden. War das ein Hinweis auf die Urheberschaft oder eine falsche Fährte?

Das Rätsel wird immer undurchsichtiger. In seiner jüngsten Ausgabe zitiert das Magazin "Newsweek" aus einer brisanten vertraulichen Studie. Sie war von Wissenschaftlern erstellt worden, nachdem der mit Anthrax verseuchte Brief an Patrick Leahy, den Vorsitzenden des Justizausschusses im Senat, von ihnen wochenlang ausgewertet worden war. Dieser Brief war den Ermittlern ungeöffnet in die Hände gefallen. Deshalb gilt die Analyse als besonders wertvoll. Das Ergebnis gleicht einer Sensation: Die Anthrax-Briefe sind das Werk von absoluten Experten. Die verwendeten Sporen sind mit einer derart ausgefeilten Technik pulverisiert worden, dass selbst Biowaffen-Experten überrascht sind. Die Qualität der Bakterien übersteigt alle bekannten Maßstäbe. Sie wurde bislang weder in den USA erreicht, noch im Irak oder in der früheren Sowjetunion. Man schätzt, dass allein mit diesem Brief 100 000 Menschen hätten getötet werden können.

Ein böses Genie muss folglich verantwortlich sein. Wie aber passt das zu den neuen Indizien, die den Schluss nahelegen, mindestens zwei der 19 Selbstmordattentäter hätten sich vor dem 11. September wegen auffälliger Hautveränderungen ärztlich behandeln lassen? Die wahrscheinlichste Diagnose: Milzbrand. Am 23. März hatte die "New York Times" über eine entsprechende Studie des Johns Hopkins Zentrums für Strategien zur Biowaffenabwehr berichtet. Demzufolge hatte der Flugzeugentführer Ahmed Alhaznawi drei Monate vor den Anschlägen wegen einer "dunklen Stelle am Knie" einen Arzt in Florida aufgesucht.

Mohamed Atta wiederum, der mutmaßliche Kopf des Unternehmens, hatte im vergangenen Oktober eine Apotheke in Florida wegen verdächtig aussehender Stellen an seinen Händen aufgesucht. Amerikanische Truppen wiederum haben vor kurzem in der Nähe der afghanischen Stadt Kandahar ein halbfertiges Labor entdeckt, in dem offenbar Anthrax-Erreger produziert werden sollten. Wie passt das alles bloß zusammen?

Die Panik ist abgeflaut, die Erkenntnisse wachsen, das Rätsel bleibt. Aber vielleicht widersprechen sich die Theorien gar nicht, sondern ergänzen einander. Womöglich gibt es sowohl einen genialen Einzeltäter, der in den USA einen privilegierten Zugang zu ausgewählten biologischen Kampfstoffen gehabt hatte, als auch eine Verwicklung der Al-Qaida-Terroristen. In diese Richtung spekuliert der "Economist" in seiner jüngsten Ausgabe. Demzufolge könnten beide Seiten zusammengearbeitet haben. Diese "höchst beunruhigende Möglichkeit" könne nicht länger ausgeschlossen werden, heißt es.

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