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Politik: Entscheidung für Europa

Nach Urteil aus Straßburg will die türkische Regierung PKK-Chef Öcalan ein neues Verfahren ermöglichen

Die Aussicht auf ein neues Verfahren für PKK-Chef Abdullah Öcalan nahm in der Türkei nur der Beschwerdeführer selbst gelassen. „Ach, von dem neuen Verfahren reden wir ein andermal“, wischte Öcalan das Thema gelangweilt vom Tisch, als seine Anwälte ihm bei ihrem Besuch auf der Gefängnisinsel Imrali letzte Woche vom bevorstehenden Urteil aus Straßburg berichteten. Dann wandte er sich wieder den Interna der PKK-Führung zu, die er wie immer ausführlich erörterte: Auch in Freiheit hatte Abdullah Öcalan seine Rebellenorganisation stets nur aus der Ferne gelenkt.

Umso aufgeregter erwartete die übrige Türkei schon seit Wochen das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshof über den Fall Öcalan, der auch sechs Jahre nach dem spektakulären Hochverratsprozess auf Imrali noch politischer Sprengstoff ist. Dabei war der Inhalt der Straßburger Entscheidung längst kein Geheimnis mehr: Seit zwei Monaten zitierten türkische Medien bereits den Urteilstenor, den das Straßburger Gericht der Regierung in Ankara offenbar vorab zugesteckt hatte.

Nun liegt das Urteil auf dem Tisch – und seine Auflagen ließen sich durchaus einfach erfüllen. Mit einem neuen Verfahren könnten die Mängel an dem Hochverratsprozess von 1999 leicht behoben werden, empfahl das Menschenrechtsgericht. Die beanstandeten Defizite hat die Türkei seither ohnehin beseitigt.

Dennoch wäre ein neuer Öcalan-Prozess innenpolitisch hoch brisant. Denn die Forderung nach einer Neuverhandlung für Öcalan stellt die ganze Türkei vor die Wahl zwischen Europa und dem Nationalismus – und jeder muss sich entscheiden. Die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat sich bereits entschieden – und zwar für Europa. Leicht war das sicher nicht, doch dank des zeitigen Winks aus Straßburg konnte sie ihre Entscheidung besonnen abwägen, statt sich in ihrer Reaktion auf das Urteil von der ersten Wut und öffentlichen Protesten treiben zu lassen. Mit verkniffenen Gesichtern, aber gut vorbereitet und fest entschlossen traten Spitzenvertreter der Regierung darum unmittelbar nach der Urteilsverkündung vor die Presse und versicherten: Die Türkei wird ihre rechtsstaatliche Pflicht tun.

Diese Entscheidung kann die Regierung politisch teuer zu stehen kommen. Zwar bettelten Regierungspolitiker in allen TV-Kanälen, das Urteil des Menschenrechtsgerichts dürfe nicht innenpolitisch ausgeschlachtet werden, doch darüber dürften die Strategen der Opposition nur gelacht haben. Die Partei der Nationalen Bewegung (MHP), derzeit nicht im Parlament vertreten, rieb sich in Erwartung dieses Tages schon seit Wochen die Hände und ruft zu einem „Volksaufstand“ gegen einen neuen Prozess für Öcalan auf.

So unpopulär ist eine Neuverhandlung, die als Extrawurst für den Rebellenchef gesehen würde, dass auch die parlamentarische Opposition in Gestalt der Republikanischen Volkspartei (CHP) ihr Mäntelchen in diesen Wind hängt und gegen einen neuen Prozess polemisiert. Die Regierung solle beim Europarat intervenieren und dafür sorgen, dass es kein Wiederaufnahmeverfahren gebe, forderte Oppositionschef Deniz Baykal.

Auch der PKK konnten es die Straßburger Richter nicht recht machen. PKK-Führungsmitglied Cemil Bayik erklärte das Urteil für „ungenügend“, weil es nur Verfahrensfragen rüge. Um die Rolle der europäischen Staaten im internationalen „Komplott“ zur Ergreifung und Verurteilung des PKK-Chefs zu verschleiern, habe das Gericht sich gar nicht erst inhaltlich mit dem Fall befasst, kritisierte Bayik. Die politische Auseinandersetzung um Öcalan spielt sich vor dem Hintergrund des kriegerischen Konflikts in Südostanatolien ab, der in letzter Zeit wieder neu entflammt ist. An den Kämpfen in den Bergen der Südosttürkei sind derzeit tausende kurdische Rebellen und zehntausende Soldaten beteiligt.

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