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Politik: EU droht Lagerkampf

Die Europäische Union steuert nach ihrem Brüsseler Gipfel-Debakel auf harte Lagerkämpfe unter britischer Führung zu. Großbritanniens Premier Tony Blair, dem die Partner die Schuld für das Scheitern zuschoben, wird am 1. Juli den Vorsitz des EU-Rates übernehmen. (19.06.2005, 18:10 Uhr)

Brüssel - Die EU steht unter hohem Druck, den Finanzrahmen für 2007 bis 2013 zu verabschieden, um ihre Handlungsfähigkeit zu sichern. Vor allem die zehn neuen Mitglieder hatten deshalb in einem dramatischen Angebot zum Verzicht auf EU-Gelder in der Nacht zum Samstag versucht, eine Einigung in letzter Minute möglich zu machen.

Die ernste Sinnkrise der Gemeinschaft verschärfte sich noch, da die 25 EU-Staaten bei dem zweitägigen Treffen am Donnerstag und Freitag keine klare Antwort auf die Frage gaben, wie die gefährdete EU-Verfassung nach dem Nein der Franzosen und Niederländer gerettet werden soll.

Mit ungewöhnlich harschen Worten attackierte Bundeskanzler Gerhard Schröder den Briten Blair und dessen niederländischen Amtskollegen Jan Peter Balkende. «Letztlich ist es an der völlig uneinsichtigen Haltung von Großbritannien und den Niederlanden gescheitert», sagte Schröder. «Ich bin traurig.» Auch die deutsche Opposition zeigte sich enttäuscht. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) forderte eine grundlegende Neuorientierung der Europapolitik. Man müsse eine überstürzte Erweiterung und überbordende EU-Bürokratie beenden.

Blair verteidigte seine Ablehnung der Finanzplanung. Diese sehe auch 2013 noch sieben Mal so hohe Ausgaben für die Landwirtschaft vor wie für Forschung, Technologie und Bildung. «Das entspricht nicht dem, was Europa für das 21. Jahrhundert braucht», sagte Blair. Balkenende rechtfertigte seine Blockade mit völlig überhöhten Beiträgen seines Landes in die EU-Kasse.

Blair verknüpfte bis zum Schluss die Frage des Briten-Rabatts - in diesem Jahr beträgt der Abschlag auf die Nettozahlungen an die EU schätzungsweise 5,2 Milliarden Euro - mit der Forderung, die seit 2002 festgeschriebenen Agrarzahlungen auf den Prüfstand zu stellen. Sie machen mit gut 40 Milliarden Euro jährlich den Löwenanteil im EU- Haushalt aus. Die französischen Bauern profitieren am meisten davon. Frankreichs Präsident Jacques Chirac zeigte sich in Brüssel allerdings zu gewissen Abstrichen bereit.

Ohne rechtzeitige Einigung auf die Finanzplanung drohen Verzögerungen für verschiedenen EU-Programme. Auf die Mittel der Periode 2000 bis 2006 hatten sich die EU-Spitzen erst beim Gipfel 1999 in Berlin geeinigt. Die folgenden neun Monate stellten sich als zu knapp heraus, um alle Vorhaben rechtzeitig startklar zu bekommen.

Die Hoffnung auf einen politischen Neuanfang richten sich schon auf den Beginn des Jahres 2006, wenn Österreich den EU-Vorsitz von Großbritannien übernimmt. Der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel fürchtet, dass schwere innere Kämpfe die EU weiter in die Krise stürzen. «Das ist die Gefahr», sagte er am Samstag. «Die Briten wollen ein anderes Europa. Sie wollen mehr ein marktwirtschaftlich orientiertes Europa, einen größeren Markt, keine vertiefte Union.»

Besonders tief getroffen reagierte Verhandlungsführer Jean-Claude Juncker, der als luxemburgischer Premier noch bis Ende Juni den Vorsitz innehat. «Meine Europabegeisterung hat heute einen tiefen Knacks bekommen», sagte er nach 14-stündigen Verhandlungen am frühen Samstagmorgen. Auch er griff vor allem Großbritannien wegen dessen Blockadepolitik an. Zudem hatten die Niederlande, Schweden, Finnland und Spanien das letzte Kompromisspaket abgelehnt.

Trotz des Fiaskos richteten die Gipfelteilnehmer den Blick nach vorn. «Europa wird sich eines Tages aufrappeln», sagte Juncker. Für Schröder muss die Integration weiter gehen. «Dieses Europa ist nur als politische Union überlebensfähig im Wettbewerb der Märkte», betonte der Kanzler in Brüssel.

«Die Zeit für klare Entscheidungen in der Europäischen Union ist gekommen», sagte Belgiens Regierungschef Guy Verhofstadt. Der Franzose Chirac forderte, Lehren aus der EU-kritischen Haltung der französischen und niederländischen Wähler bei den Volksabstimmungen zur Verfassung zu ziehen: «Wir müssen hören, was man uns sagt, es verstehen und die Konsequenzen daraus ziehen.»

Enttäuschung und Unverständnis löste das Gipfel-Desaster bei den zehn neuen Mitgliedstaaten aus. Sie hatten am Ende des 14-stündigen Finanzpokers vergeblich versucht, den Gipfel mit einem Verzicht auf EU-Gelder zu retten. «Das war sehr beeindruckend gegenüber dem Egoismus von ein oder zwei reichen Ländern», sagte Chirac. Blockiert hätten andere, kritisierte der Belgier Verhofstadt: «Es waren die Reichsten unter uns, die für Rabatte und Schecks gekämpft haben.» Diese Haltung habe neben Großbritannien, den Niederlanden und Schweden in geringerem Maße auch Deutschland eingenommen. (tso)

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