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Politik: EU-Osterweiterung: Sind die Gremien Europas ausreichend legitimiert oder muss das Volk die letzte Entscheidung treffen?

Günter Verheugen ist gelernter Journalist. Auch seine weitere Karriere als FDP-Generalsekretär, Sprecher und Bundesgeschäftsführer der SPD weckt die Erwartung, es mit einem Profi zu tun zu haben, der kein unbedachtes Wort gegenüber den Medien fallen lässt.

Günter Verheugen ist gelernter Journalist. Auch seine weitere Karriere als FDP-Generalsekretär, Sprecher und Bundesgeschäftsführer der SPD weckt die Erwartung, es mit einem Profi zu tun zu haben, der kein unbedachtes Wort gegenüber den Medien fallen lässt. Nun ließ sich Verheugen, seit einem Jahr EU-Kommissar und zuständig für die Erweiterung, von der "Süddeutschen Zeitung" mit markigen Sätzen zitieren: Der Euro sei in Deutschland "hinter dem Rücken der Bevölkerung eingeführt" worden. Dies dürfe sich bei der Ost-Erweiterung nicht wiederholen, ließ er Sympathien für eine Volksabstimmung darüber erkennen. Den nationalen Regierungen warf er vor, sie täten nichts, um die Bevölkerung für die Ost-Erweiterung zu gewinnen und ließen die Kommission bei der "Drecksarbeit" allein.

Die Reaktionen waren scharf. Kanzler Schröder und Außenminister Fischer distanzierten sich vom deutschen Kommissar, auch EU-Kommissionspräsident Prodi verlangte eine Klarstellung.

Zu einem Referendum über die Ost-Erweiterung wird es in Deutschland nicht kommen. Dafür müsste das Grundgesetz geändert werden, die Bundesrepublik ist eine repräsentative Demokratie. Zudem gab es bei früheren Erweiterungen - um Dänemark, Großbritannien und Irland 1973, Griechenland 1981, Portugal und Spanien 1986, Finnland, Österreich und Schweden 1995 - auch keine Volksabstimmungen in den Mitgliedsstaaten, ob man die Neuen aufnehmen soll. Es gab nur umgekehrt in manchen Kandidatenländern Referenden darüber, ob deren Bevölkerung den Beitritt wünscht. Und es gab Volksabstimmungen über den Euro, zum Beispiel in Frankreich und Dänemark.

Die Menschen kennen die Fakten nicht

Indirekt hat Verheugen gleichwohl den Finger auf zwei Wunden gelegt. Erstens tun die Regierungen der EU-Mitglieder tatsächlich zu wenig, um die Bevölkerung zu überzeugen, dass die Erweiterung nach Osten ein richtiger und wichtiger Schritt ist. Zweitens gibt es einen Mangel an Bürgerbeteiligung bei den großen Entscheidungen der EU. Doch Referenden sind nicht die Antwort darauf. Es geht darum, die Entscheidungsmechanismen der indirekten, der repräsentativen Demokratie in Europa durchsichtiger und legitimer zu gestalten.

Begeisterung für die Ost-Erweiterung - nein, die gibt es nicht, schon gar nicht in Deutschland. Die allgemeine Stimmungslage ist: Die Aufnahme der Kandidaten berge große Risiken, von der Arbeitskonkurrenz bis zur importierten Kriminalität. Und sie werde viel kosten, weil Polen, Tschechien, Ungarn und die anderen mit Geld aus Brüsseler Kassen auf EU-Niveau gehievt werden müssten. Die Fakten sprechen zwar eine andere Sprache - schon jetzt profitieren die EU-Staaten, allen voran Deutschland, vom großen neuen Absatzmarkt vor ihrer Haustür in einem Maße, das die Kosten ausgleichen dürfte. Die deutschen Exporte nach Osteuropa sind seit der Wende sprunghaft gewachsen, 1999 waren es Waren im Wert von rund 100 Milliarden Mark - was 800 000 bis einer Million Jobs in der Exportindustrie sichert. Die nationalen Regierungen haben wenig dafür getan, diese Fakten unter das Volk zu bringen. Viele deutsche Politiker scheinen es für wählerwirksamer zu halten, die Ängste populistisch zu schüren. Da hat Verheugen schon recht.

Seine Kritik über einen Mangel an direkter Demokratie ist dagegen schwer verständlich. Die ist nicht vorgesehen. Was Europa braucht, ist konsequente indirekte Demokratie. Die Macht liegt im Wesentlichen bei den nationalen Regierungen im Europäischen Rat, nicht bei den EU-Institutionen: der Kommission und dem Parlament. Deshalb die breite Diskussion über die Reform, zu der es in diesem Halbjahr unter französischer EU-Präsidentschaft kommen soll. Der europäische Souverän, die Summe der Bürger aller Mitgliedsstaaten, tritt bisher kaum in Erscheinung. Selbst das Europaparlament wird nach nationalen Quoten gewählt.

Das Grundprinzip der Demokratie, dass die Stimme jedes Bürgers ungefähr das gleiche Gewicht haben soll, wird in der EU krass verletzt. Bei den Abstimmungen im Ministerrat hat Deutschland mit seinen 82 Millionen Bürger zehn Stimmen, das kleine Luxemburg mit 422 000 Einwohnern zwei. Eine luxemburgische Stimme steht dort für 211 000 Bürger, eine deutsche für 8,2 Millionen. Die mittelgroßen EU-Staaten wie Belgien (10,2 Millionen Einwohner, 5 Stimmen) liegen dazwischen: Eine belgische Stimme vertritt zwei Millionen Bürger. Ähnlich im Europaparlament: Deutschland stellt 99 Abgeordnete, Luxemburg 6, Belgien 25. Ein deutscher EU-Parlamentarier repräsentiert rund 828 000 Wähler, ein luxemburgischer 70 333. Ein belgischer 408 000. Das alles erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte - die kleinen Staaten hatten Angst, von den Großen überstimmt zu werden. Durch die EU-Reform soll dieses Übel etwas abgemildert, nicht aber beseitigt werden. Doch wenn Europa sich demokratisch legitimieren will, kann es nicht dabei bleiben, dass ein Luxemburger mehrfach so viel Einfluss hat wie ein Deutscher.

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