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Flüchtlinge: Klein-Bagdad in Schweden

Die Stadt Södertälje ist zu einem der wichtigsten Fluchtpunkte für Iraker geworden. Die Kleinstadt südwestlich von Stockholm hat mehr von ihnen aufgenommen als die USA und Kanada zusammen – langsam wird es dort eng.

Früher kannten nur Tennisfans Södertälje. Die südwestlich von Stockholm gelegene Kleinstadt ist der Geburtsort des ehemaligen Stars Björn Borg. Doch inzwischen ist sie vielen im Land auch gut bekannt als „lilla Irak“ – „kleiner Irak“. „Södertälje hat seit Beginn des Irakkriegs mehr Iraker aufgenommen als die USA und Kanada zusammen“, sagt Bürgermeister Anders Lago. „Zurzeit kommen 100 Iraker pro Monat. Wir müssen jeden Monat eine neue Vorschulgruppe gründen. Es wird zu viel.“ Sogar der US-Kongress hat ihn nun eingeladen. Washington will wissen, wie eine so kleine Stadt so viele Flüchtlinge aufnehmen kann.

Mit seinem Hilferuf hat Lago eine Debatte über die generöse Asylpraxis Schwedens entfacht. 36 660 Iraker bekamen zwischen 2003 und 2007 größtenteils unbefristete Aufenthaltsgenehmigungen, statt wie andernorts üblich nur befristete Duldungen. Flüchtlinge dürfen in Schweden selbst entscheiden, wo sie wohnen wollen. Seit Beginn des Irakkrieges hat die rund 80 000 Einwohner zählende Stadt Södertälje rund 6000 zumeist christliche Iraker aufgenommen. 2400 kommen allein in diesem Jahr noch hinzu.

Södertälje ist Hauptanlaufpunkt, weil dort bereits Ende der 60er Jahre christlich-nahöstliche Gemeinden entstanden sind, mit chaldäisch-katholischen, syrisch-orthodoxen und syrisch-katholischen Kirchen. Kaum Verständigungsprobleme, ein eigener Fernsehsender, arabische Geschäfte – all das macht das Einleben dort für die Flüchtlinge einfach.

Vor allem in den Außenstadtteilen Ronna und Hovsjö wird der „kleine Irak“ wegen der nahöstlich anmutenden Szenerie aus Läden und Passanten spürbarer. In Schweden haben selbst vernachlässigte Stadtviertel einen gewissen Standard. Dennoch sind auch in Södertälje fünf Iraker dicht gedrängt auf Matratzen in einer Einzimmerwohnung keine Seltenheit. Viele könnten in anderen Kommunen besser wohnen, aber wegen ihrer Landsleute wollen sie bleiben.

Iraker aus der etablierten Mittelschicht

Die meisten Iraker, die nach Södertälje kommen, haben ein etabliertes Mittelschichtleben aufgeben müssen. Manhal Ghize sitzt vor einem Teller mit Bulgur, Erbsen und sehr weich gekochtem Lammfleisch. Vor einem knappen Jahr kam er nach Södertälje. Auf Arabisch sagt er, dass er umgebracht würde, wenn er zurück nach Bagdad müsste. Der 36-jährige Christ hatte dort einen gut laufenden Kiosk mit Alkoholverkauf. „Selbst Muslime kamen in mein Geschäft und fragten nach Whiskey – auch wenn sie etwas schüchtern taten“, sagt Ghize und lächelt etwas kraftlos. Nach dem Krieg kamen die Drohanrufe: „Es ist gegen den Islam, Alkohol zu verkaufen. Ihr Christen seid US-Kollaborateure. Wir werden deinen Laden in die Luft jagen, dich und deine Familie wie Vieh abschlachten.“ Als sich die Nachrichten über Entführungen und Hinrichtungen von Christen verbreiteten, verkaufte er alles und floh.

Warum so viele Iraker gerade nach Schweden kommen, sei einfach zu beantworten, sagt Ghize: „Im Irak wissen alle, dass in Europa fast nur Schweden Flüchtlinge permanent aufnimmt.“

Bei Södertäljes Bevölkerung scheint die Akzeptanz für Flüchtlinge nach wie vor da zu sein. Polizeisprecherin Kia Samrell attestiert: „Probleme haben wir nicht.“ Dennoch haben die Rechtspopulisten Zulauf bekommen. Einige Passanten wie der 60-jährige Hans Vallden meinen, dass es unter der Oberfläche brenne. „Fremdenfeindlichkeit ist leider verbreitet, auch wenn sie sich hinter schwedischer Höflichkeit verbirgt“, sagt er.

Wegen des Wohnraumproblems hat Bürgermeister Largo die Landesregierung aufgefordert, das Prinzip der freien Niederlassungswahl aufzugeben und Iraker auch in andere Kommunen zu zwingen. Davon will der liberale Migrationsminister Thomas Billström aber nichts wissen. Er kritisiert stattdessen, dass andere EU-Ländern nicht ihrer Verantwortung nachkommen. „Wir können nicht weiterhin diese Lotterie innerhalb Schengens haben, wo die eigentlich einheitlichen Regelungen von Land zu Land so unterschiedlich gehandhabt werden“, sagt er. Billström fordert, dass der EU-Gerichtshof, die höchste Instanz bei allen Asylleitentscheidungen, endlich auch für alle Mitgliedsstaaten verbindlich sein soll.

André Anwar

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