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Politik: Frühschicht an der Bettkante

Schwester Conny arbeitet seit zehn Jahren im mobilen Dienst – mit einer Altenpflegerin auf Tour

Alt werden ist nichts für Feiglinge, hat Hollywoodstar Mae West einmal gesagt. Alte pflegen aber auch nicht. Schwester Cornelia ist zum Glück kein scheues Reh. Sie spricht erst zurückhaltend, später offener, aber immer bestimmt. Eine unaufdringliche Autorität. Haare und Kleidung sind top gestylt, die Bewegungen sicher. „Nennen Sie mich Conny“, sagt sie schon beim ersten Treffen.

Morgens um halb sieben nahe des Neuköllner Schifffahrtskanals. Schwester Conny gibt zügig Instruktionen. Frau Müller sei Diabetikerin und so gut wie blind. Und Hände schütteln lasse man besser sein. Alte haben ein geschwächtes Immunsystem. „Wir schleppen denen sonst nur Krankheiten rein.“ Drinnen steht Frau Müller im Bademantel, blickt ins Ungewisse, wie es Blinde tun, und streckt lächelnd die Hand aus. Anfassen oder nicht? Anfassen. Schwester Conny guckt missbilligend. Zwei Leute und ein Hocker im Neubaubad – mehr passt nicht rein. Auf dem Wohnzimmertisch liegt die Pflegeakte, die akribisch geführt werden muss. „Duschen 2 x wöchentlich, kleine Teilwäsche“ – die ist gerade dran.

Zehn Minuten später ist Frau Müller, 72, gewaschen und angezogen. Einmal im Monat Blutzucker und Blutdruck messen gehöre zum Service, sagt Schwester Conny. Das reiche aber bei keinem der Diabetiker auf ihrer Tour. „Wenn so wie jetzt die Verordnung des Arztes fehlt, machen wir das quasi umsonst.“ Das komme häufig vor. Noch ein Piekser mit dem Insulin-Pen in die Bauchdecke, dann lässt sich Schwester Conny den Leistungsbogen für die Krankenkasse unterschreiben. Alles ging freundlich aber flott. Keine Handbewegung zu viel, Arme streicheln, reden, schreiben und Blinde führen inklusive. Draußen auf der Straße ist es zehn vor sieben.

Im Auto ist etwas Zeit zum Reden. Schwester Conny ist examinierte Krankenschwester, 50, und lebt mit Mann und Hund in Grünau. Die Kinder sind schon aus dem Haus. Seit zehn Jahren arbeitet sie als Altenpflegerin im mobilen Dienst. Das Auto sei ihr eigenes – die Firmen stellten gerne Leute mit Auto ein. Mit dem gezahlten Kilometergeld kommen sie günstiger weg als mit einem Dienstwagen.

Sieben Uhr bei Herrn Radtke, 67, in Treptow. Er habe Hepatitis, Leberzirrhose und offene Ekzeme, erklärt Schwester Conny. „Sie fassen nichts an in der Wohnung. Und achten Sie auf den Hund.“ Leo kläfft schon hinter der Wohnungstür. Mit einem Leckerli lässt er sich beruhigen. Herr Radtke will im Bett bleiben. Auf dem Schlafzimmerfußboden liegen Hose, Socken und gebrauchtes Verbandszeug. Die Schwester redet ruhig auf ihn ein. Schwester Conny kontrolliert die Pillenschachtel und richtet das Frühstück. Herr Radtke will Brause trinken. „Brause zum Frühstück? Das schmeckt doch nicht.“ Sie gießt Tee für den Diabetiker auf. Dann kommt er doch rein geschlurft. Blutig verschmiertes Unterhemd, aufgekratzte Arme, verfilztes Haar, karierte Schlappen. Sie piekst in den Finger und misst den Blutzucker. In Ordnung, also keine Injektion. „Stuhlgang ok?“ Er nickt. Dann wieder der Schreibkram. Manchmal liege der Trinker morgens auch neben dem Bett, sagt Conny beim Rausgehen. Die Uhr zeigt 7.16 Uhr.

„Jetzt sind wir eigentlich schon zu spät“, sagt Schwester Conny. Für einen Insuliner habe sie 15 Minuten. Der Zeitplan gerate oft ins Rutschen. „Wenn ich erste Hilfe leisten muss oder ein Patient gestorben ist.“ Und auch mit den Fahrzeiten sei es so eine Sache. „Manchmal sind die gar nicht im Plan berücksichtigt.“ Trotzdem – hetzen lässt Conny sich nicht. Sie habe sich extra für einen Pflegedienst entschieden, wo die Krankenschwestern auch die normale Hauspflege machen. „Da hab’ ich mehr Zeit für die Patienten und der Kontakt ist enger.“ Bei den großen Trägern wie DRK, Diakonie oder Caritas übernähmen Schwestern nur die medizinische Versorgung und Hauspflegerinnen Waschen, Mahlzeiten oder Einkäufe. „Da hat man als Schwester 20 Leute auf der Tour und überall nur zehn Minuten. Das ist doch nichts.“ Was sie verdient? „Pflegerinnen bekommen sieben bis acht Euro brutto und wir Schwestern zwei bis drei Euro mehr.“ Ohne ihren Mann käme sie finanziell nicht zurecht, sagt sie.

7.30 Uhr – Einkehr bei einem türkischen Bäcker in der Neuköllner Karlsgartenstraße. Einen Kaffee kaufen und Schrippen und Börek für die Patienten.

Ehepaar Kaiser wartet schon auf die Schwester. Sie sei aber spät dran heute. Der schlanke Gatte sitzt mit akkurat gescheiteltem Haar am PC. Seine dicke Frau in Unterwäsche auf der Bettkante. Herr Kaiser war früher Elektroniker. Jetzt lebt er am Bett seiner pflegebedürftigen Frau. Schwester Conny füllt zielstrebig die Waschschüsseln. „Kaiserin, heut’ müssense was unterschreiben.“ Die antwortet fidel: „Aber nicht mein Todesurteil, wa?“ Sie ist 67, Diabetikerin, der linke Fuß ist amputiert. Sie summt und brabbelt wie ein Kind, der Oberkörper wackelt hin und her. Männer akzeptiert sie nicht als Pfleger. Conny wäscht und cremt. Um acht hat seine Frau ein neues Nachthemd an. Die Schwester kämmt das strähnige Haar.

Dann geht’s nach Kreuzberg. Gerade da lebten viele Leute mit ganz kleiner Rente, sagt Schwester Conny: „Wenn’s Leute wie mich nicht gäbe, müssten viele ins Heim.“ Dort zu arbeiten, käme für sie nicht in Frage. Sie habe es ein halbes Jahr probiert. Aber einen Menschen in fünf Minuten waschen und füttern, „das geht menschlich und seelisch nicht.“

Parken in der Ritterstraße. 8.30 Uhr – hier sei nur Grundpflege mit „kleiner Morgentoilette“ und Frühstück angesagt. Frau Wullermann hat Glück: eine Tochter lebt im selben Haus. Die kleine Neubauwohnung ist tipptopp in Schuss. Der Pflegedienst solle sicherstellen, dass die alte Dame isst und trinkt, sagt Conny. Die Tochter muss arbeiten gehen. Mit ihrem zahnlosen Mund ist die zierliche Frau kaum zu verstehen. Aufstehen, waschen, anziehen, frühstücken. Schwester Conny hat das mitgebrachte Börek warm gemacht. Frau Wullermann, 82 Jahre alt aber nicht krank, mümmelt ergeben vor sich hin. Wie sie geschlafen hat? „Beschissen!“ Das Alter macht nur wenige zum Sonnenschein. Schwester Conny dokumentiert Essen und Trinken, „Hilfe bei der Nahrungsaufnahme“ heißt das im Leistungsbogen der Pflegekasse. Zum Schluss spült Conny das Geschirr. „Den Arbeitsplatz sauber halten gehört auch dazu.“

15 Minuten, 20, 30, 45 oder 60 – im Dienstplan steht hinter jedem Menschen eine Zeitangabe. Einige seien realistisch, andere nicht, sagt Schwester Conny. Aber auf der Stammtour könne man sich auch vieles einteilen. Für Frau Ehrlich in der Großbeerenstraße steht heute Vormittag Einkaufen im Supermarkt an. Zu ihr kommt der Pflegedienst drei Mal am Tag. Und sonst eigentlich niemand. Tomaten, Fertigsuppe, Zucker und vieles mehr wandert in den Einkaufswagen. So viel Zucker? Ja, Frau Ehrlich trinke nichts ungesüßt. „Ihre Zuckerwerte sind immer top, also bekommt sie das auch von mir.“ Die alte Hauswartswitwe sei ein kompletter Sozialfall. „Hoffentlich ist sie heute nicht aggressiv. Dann ist nichts mit ihr anzufangen“, sagt Schwester Conny. Sie wolle nicht Baden, weil das im Bombenkrieg gefährlich sei. Und sitze überhaupt tagelang im Luftschutzkeller. In Wirklichkeit sitzt sie barfuß im Nachthemd auf der Bettkante und schaut ziellos. Die Parterrewohnung ist riesig, doch Frau Ehrlichs Welt ist auf ein Zimmer zusammengeschnurrt. Alles ist klebrig, vollgestellt und muffig. Schwester Conny streicht Brote, gießt Fertigsuppe auf, schneidet Obst und Tomaten in Stücke und füllt Tassen und Gläser. Frau Ehrlich redet mit sich selber. Manchmal traue sie sich sogar auf den Hof, sagt die Schwester. Barfuß, auch im Winter. Die Wohnung sei ekelig und Frau Ehrlich unberechenbar. „Aber ich mag sie, weil sie so eine kleine Mickey-Maus ist“, sagt Conny und streichelt ihre Wange. Zwischen 14 und 15 Uhr kommt sie am Ende ihrer Tour noch mal vorbei. Plötzlich wird Frau Ehrlichs wirres Reden klar. Sie lebe seit 60 Jahren hier. Und zur Arbeit sei sie immer nach Grunewald gefahren. „Als ich jung war, hatte ich so zarte Hände.“ Schwester Conny misst Blutdruck.

Die Sonne scheint, inzwischen ist es Mittag. Nie hat frische Luft so gut getan. Schwester Conny steigt ins Auto. Sie muss noch mal zur blinden Frau Müller schauen, den Korntrinker Herrn Radtke duschen, seine Ekzeme eincremen und wieder zurück zu Frau Ehrlich. Die sitzt und löffelt im Schneckentempo Fertigsuppe. Schon nicht mehr ganz von dieser Welt. Alt werden ist nichts für Feiglinge. Alte pflegen aber auch nicht.

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