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Politik: Galionsfigur der Armen

Bei der heutigen Präsidentschaftswahl in Venezuela gilt Amtsinhaber Chavez als haushoher Favorit

Der Weg zu Yoel Capriles ist mühsam. Mitten durch das von fliegenden Händlern bevölkerte Zentrum von Caracas, vorbei am hochherrschaftlichen Präsidentenpalast, durch einen finsteren Tunnel – und schon ist man in Catia, einer der größten Armensiedlungen der venezolanischen Hauptstadt. Die Straße führt durch das Viertel „23. Januar“ – eine wegen ihrer hohen Kriminalität gefürchtete Betonwüste gesichtsloser Sozialwohnungen, vor denen sich der Müll stapelt. Weiter oben auf dem Berg werden die Blocks von halbfertigen Ziegelbauten mit Wellblechdächern abgelöst. Die Straße wird enger, nur mühsam kommen hier noch zwei Autos aneinander vorbei. Schneller sind die Motorradtaxis, die sich in halsbrecherischem Slalom durch den Verkehr schlängeln. In einer scharfen Haarnadelkurve muss man aussteigen, sich zwischen zwei engen Hausmauern durchklemmen und landet dann in Yoels „Vorgarten“, einem engen Durchgang, der heute mit frisch gewaschener Wäsche dekoriert ist.

Yoel stammt aus der venezolanischen Unterschicht. Seit die Getränkefirma, bei der er arbeitete, vor zehn Jahren ihren Sitz in eine andere Stadt verlegte, ist er arbeitslos. Jetzt hat er in Hugo Chavez’ bolivarischer Revolution einen neuen Lebenssinn gefunden. „Ich identifiziere mich voll mit Chavez, er ist unser Führer, für ihn würde ich mein Leben geben“, sagt der untersetzte Mestize voller Inbrunst.

Das glaubt man ihm sofort: die kahlen Betonwände seiner feuchten Hütte ziert ein riesiges Chavez-Poster, seine Videothek besteht fast ausschließlich aus Dokumentarfilmen über die Revolution, in einer Ecke stapeln sich Kartons mit Volksliteratur, die er an die Nachbarn austeilt, und zur Feier des Tages hat er sich ein T-Shirt in den rot-blau-gelben Nationalfarben Venezuelas übergezogen. An diesem Sonntag stellt sich Venezuelas Präsident Hugo Chavez, USA-Gegner und Wortführer der radikalen Linken in Lateinamerika, zur Wiederwahl. Chavez liegt in Meinungsumfragen weit vor seinem konservativen Gegenkandidaten Manuel Rosales.

„Die Oberschicht hat uns mit Füßen getreten, aber seit Chavez an der Macht ist, gelten wir Armen was“, erklärt Yoel Capriles und verweist auf die sozialen Errungenschaften der acht Jahre Chavismo: Die kleine Krankenstation etwas weiter unten am Hügel, an der kubanische Ärzte praktizieren, den Volkssupermarkt Mercal, an dem die Grundnahrungsmittel nur einen Bruchteil von dem kosten, was in den reicheren Vierteln bezahlt werden muss. Und auf die „Volksräte“, die er gerade aufzubauen hilft, eine Art Bürgervertretung, in der die Bewohner des Armenviertels ihre Anliegen kanalisieren.

Um seine „partizipative Sozialpolitik“ zu finanzieren, hat Chavez einen speziellen Fonds eingerichtet, der mit den Einnahmen aus dem Erdölexport gespeist wird und derzeit wegen des hohen Ölpreises gut gefüllt ist. „Über die Ministerien läuft nichts, die sind noch voller korrupter Oligarchen, die den revolutionären Prozess boykottieren“, ist Capriles überzeugt. Überhaupt lässt der 47-Jährige an den Ministern kein gutes Haar. Ineffizient und korrupt seien die, „wir wirklichen Revolutionäre ziehen keinen persönlichen Vorteil aus unserem Engagement“, betont er, und seine Frau seufzt leise. Mereida will seit langem aus dieser feuchten Hütte ausziehen. „Immer wenn es regnet, habe ich furchtbar Angst, dass der Hügel über uns abrutscht und uns begräbt“, sagt die 36-jährige Frau und zeigt auf einen zehn Meter hohen Steilhang, der keine zwei Meter vor ihrer Haustüre anfängt.

Der Nachbar oben hat direkt an die Hangkante gebaut. Auch ein Sicherheitsproblem, angesichts der blutigen Bandenkriege, die sich in den Armenvierteln abspielen. Erst in der Nacht zuvor wurde etwas weiter oberhalb ein Bekannter von Capriles erschossen. Mehrfach wird unser Gespräch durch Telefonanrufe unterbrochen. Yoel greift abwechselnd zum Festtelefon und zu einem seiner zwei Handys. Er organisiert die Trauerfeier, sogar ein Abgeordneter hat sich angekündigt. Jedes Wochenende werden in Caracas rund ein Dutzend Menschen ermordet. Meist sind Drogen im Spiel. Aufgeklärt wird praktisch keiner dieser Morde. Weil die Oberschicht aber die verschlechterte Sicherheitslage zum Wahlkampfthema erkoren hat, winkt Yoel ab. „Es ist nicht viel schlimmer als früher“, sagt er. Das findet auch sein Nachbar Gustavo. Der 45-Jährige ist zwar kein glühender Chavista, aber er wird am 3. Dezember trotzdem für den amtierenden Präsidenten stimmen. „Dank ihm haben wir hier Ärzte, dank ihm können meine drei Nichten an der bolivarischen Universität studieren, es wäre undankbar, ihm nicht meine Stimme zu geben“, nuschelt der Taxifahrer, dem auf einer Seite des Oberkiefers eine Reihe Zähne fehlen.

Trotz allem will Capriles aber keine kommunistischen Experimente wie auf Kuba mitmachen. „Wir hier sind Kapitalisten, wir lieben die Freiheit und wollen weiterhin das kaufen, was uns gefällt“, sagt er. Er erwartet das, was Chavez’ demokratische Vorgängerregierungen im Laufe der Zeit vergaßen: einen funktionierenden Sozialstaat.

Der ist aber auch unter Chavez längst nicht überall angekommen in Venezuela. Im Westen des Landes sträuben sich die Indigenas gegen die Landreform, weil sie zwar einen Landtitel bekommen, aber kein Anrecht auf die unter der Erde liegenden Bodenschätze. Und die Pemon-Indianer im Süden Venezuelas warten seit acht Jahren auf eine Chance, endlich der bitteren Armut zu entfliehen. „Nun hat die Regierung auch noch die Gold- und Diamentenschürferei im Flussbett verboten“, klagt Ambrosina Osmani im Indianerdorf Bethel. Davon lebten alle Männer im Dorf. Ihre zweijährige Tochter ist krank, doch der nächste Gesundheitsposten ist zwei Stunden Fußmarsch entfernt. Und für Medikamente müsste sie ein Boot in die nächstgrößere Stadt La Paragua nehmen. Aber die umgerechnet zehn Euro hierfür kann sie nicht aufbringen.

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