zum Hauptinhalt
Angeklagt: Der ehemalige Serbenführer Radovan Karadzic (r.) muss sich in Den Haag verantworten.

© Michael Kooren/Reuters

Genozid an Muslimen: Srebrenica: Massenmord vor Gericht

Vor 20 Jahren fielen 8000 Muslime dem Morden in Srebrenica zum Opfer. Das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag sammelt seit Jahren Beweise für den Genozid – und verurteilt die Täter.

Drazen Erdemovic schlug die Hände vors Gesicht. Unter Tränen hatte er kurz zuvor im Gerichtssaal zugegeben, dass er ein Mörder ist. Als Milizionär der bosnisch-serbischen Armee hatte Erdemovic im Juli 1995 Dutzende bosnischer Muslime erschossen. Wie viele es waren, wusste er nicht mehr genau. Wahrscheinlich mehr als 70, sagte der bosnische Kroate.

Erdemovics Geständnis 1996 vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal für das einstige Jugoslawien in Den Haag (ICTY) war das erste eines Täters, der am Genozid von Srebrenica beteiligt war. Und es folgten weitere. Selbst bosnisch-serbische Offiziere gaben zu, eine Mitschuld zu haben – weil sie auf Strafminderung hofften. Aber auch, weil es nichts mehr zu leugnen gab. Schier überwältigend ist die Menge der Fakten und Indizienbeweise, die das ICTY über die Jahre gesammelt hat. Exhumierte Massengräber, Satellitenbilder der umgepflügten Stätten des Todes, Mitschnitte von Funksprüchen, gezielte Vertuschungen – alles kam ans Licht.

Trotzdem wird der Völkermord von Srebrenica von einigen weiter geleugnet. Nationalistischer Trotz und Verdrängen sind in Serbien und mehr noch im serbischen Teil Bosniens häufig anzutreffen. Wem dienen, was nützen dann die Haager Prozesse? Tragen sie tatsächlich zu einem stabilen Frieden bei? "Sicher, Völkermordprozesse als solche führen nicht zur Versöhnung", sagt der Chefankläger des ICTY, Serge Brammertz (53). Aber der Belgier, der seit 2008 im Amt ist und sich mit der Aufarbeitung der Verbrechen beschäftigt, fügt hinzu: "Derartige Verfahren sind der erste, unverzichtbare Schritt in Richtung Versöhnung."

Ignoriert und verhöhnt

Doch Brammertz kennt auch die Hartnäckigkeit der Genozidlüge. Serbische Nationalisten ignorieren oder verhöhnen die Prozesse vor dem UN-Tribunal, sie leugnen die Existenz tausender Beweise. Sie bezweifeln die Aussagen von Überlebenden der Massenexekutionen, die Stunden unter einem Berg von Leichen gelegen hatten. Sie halten die Spurensicherung an den Massengräbern für konstruiert. Ohne etwas zu beschönigen sagt Brammertz, wie er das Leugnen empfindet: "Enttäuschend, frustrierend, schockierend."

Für den belgischen Juristen ist das Fehlen eines gemeinsamen Geschichtsbildes in Ex-Jugoslawien das zentrale Hindernis für die Versöhnung zwischen den Volksgruppen – Muslimen, Serben und Kroaten – in Bosnien. Die ethnischen Gruppen besuchen meist getrennte Schulen. Auf gemeinsame Geschichtsbücher können sie sich nicht einigen, jede Gruppe lehrt ihre Kinder die je eigene Version und Deutung der Ereignisse. "Wie kann es da weitergehen mit Bosnien als ganzem Land?", fragt der Chefankläger. Bildung und Erziehung, betont Brammertz, "das ist das Wichtigste, um sicherzustellen, dass neue Generationen kritisch denken lernen und in der Lage sind, historische Fakten zu akzeptieren."

20 Angeklagte, 14 Urteile

Das Jugoslawien-Tribunal hat wegen der Verbrechen nach dem Fall von Srebrenica 20 Tatverdächtige angeklagt, 14 wurden verurteilt, davon mehrere zu lebenslangen Strafen. Drazen Erdemovic, ein einfacher Infanterist, sagte den Richtern 1996, er habe mitgemacht, weil er sonst selbst erschossen worden wäre. Erdemovic half dem Tribunal bei seinen Srebrenica-Ermittlungen, trat als Kronzeuge auf. Er wurde "nur" zu fünf Jahren Haft verurteilt, obwohl sogar die Verteidigung sieben Jahre angebracht gefunden hätte. Viele protestierten gegen das milde Urteil. Der Kronzeuge lebt heute unter neuem Namen in einem anderen Land.

Der erste Prominente, der 1998 verhaftet wurde und wegen Srebrenica vor dem Tribunal erscheinen musste, war Radislav Krstic. Während seines Prozesses sagte der bosnisch-serbische General, er habe nur legitime militärische Operationen organisiert. Den eigentlichen Völkermord hätten "kranke Geister" wie der bosnisch-serbische Armeechef General Ratko Mladic geplant. Das Urteil gegen Krstic lautete in letzter Instanz 35 Jahre Haft wegen Beihilfe zum Genozid – unter anderem hatte er Soldaten seiner Einheit für den Völkermord zur Verfügung gestellt. Ex-General Mladic und sein politischer Vorgesetzter Radovan Karadzic blieben Jahre auf der Flucht. 2008 wurde Karadzic, 2011 Mladic verhaftet.

Im Herbst, mehr als zwanzig Jahre nach dem Genozid, wird das Urteil gegen Karadzic erwartet. Beim Prozess gegen Ratko Mladic wurden in Den Haag schon mehr als 330 Zeugen gehört. Aber das Hauptverfahren wird wohl dieses Jahr noch nicht beendet werden können. Das Urteil soll erst Ende 2017 fallen.

Thomas Verfuss

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false