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Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU)

© imago/photothek/Florian Gaertner

Gesundheitsminister ignoriert Urteil: Jens Spahn verhindert Sterbehilfe

Ein Arzneimittel-Institut verweigert Schwerkranken Suizidmedikamente – auf persönliche Weisung des Gesundheitsministers. Das belegen Regierungsdokumente.

Trotz eines Gerichtsurteils zur Abgabepflicht tödlich wirkender Medikamente an Schwerstkranke hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) entsprechende Maßnahmen des zuständigen Bundesamts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn unterbunden. Wie die Behörde dem Tagesspiegel mitteilte, seien 93 von insgesamt 123 vorliegenden Anträgen abgelehnt worden. Einen positiven Bescheid habe es in keinem einzigen Fall gegeben. 22 suizidwillige Antragsteller seien in der Wartezeit verstorben.

„Mit seiner rechtswidrigen Hinhaltetaktik hat das Bundesgesundheitsministerium Schwerkranke nun kleingekriegt“, kritisiert die FDP-Gesundheitspolitikerin Katrin Helling-Plahr. An diesem Mittwoch berät der Bundestag über einen Antrag der FDP-Fraktion, die Rechtslage klarzustellen und für unheilbar Erkrankte eine Möglichkeit zu schaffen, an Sterbemedikamente zu kommen.

Die Einstellung dieses Herrn ist seine Sache, aber der hat sich Urteilen zu beugen, und die nicht außer Kraft zu setzen.

schreibt NutzerIn uwemohrmann

Spahn verfügt eine Sperre - ohne Einzelfallprüfung

Das Bundesverwaltungsgericht hatte im März 2017 letztinstanzlich entschieden, dass Schwerkranke in einer unerträglichen Leidenssituation vom BfArM ausnahmsweise eine Erlaubnis zum Erwerb tödlich wirkender Betäubungsmittel erhalten können. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) weigert sich jedoch, das Urteil umzusetzen, da es den Staat zur Suizidassistenz verpflichte.

Zwar erklärt das BfArM offiziell, es bescheide die Anträge „stets nach sorgfältiger Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung der individuellen Umstände.“ Doch aus internen Unterlagen des Bundesgesundheitsministeriums, die nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) an den Tagesspiegel herausgegeben werden mussten, geht hervor, dass Spahn frühzeitig selbst eine Sperre verfügt hat – ohne, dass es auf nähere Prüfungen ankommen soll.

Der Brief ist ein Erlass - "so gemeint und gewollt"

So heißt es in einem Vermerk aus dem Juni vergangenen Jahres: „Gemäß der Vorgabe von Herrn Minister“ sollten die beim BfArM anhängigen Anträge auf Erteilung einer Erwerbserlaubnis für Betäubungsmittel zum Zweck der Selbsttötung „im Ergebnis versagt werden.“ Dazu fertigten die Beamten einen Brief für Staatssekretär Lutz Stroppe an das BfArM, in dem dieser das Anliegen zwar lediglich als Bitte formulieren sollte. Intern ließen die Beamten jedoch keinen Zweifel an der Verbindlichkeit der Ansage: Der Brief sei als „Erlass gegenüber dem BfArM zu werten“ und dies sei auch „so gemein und gewollt“, heißt es. Die „Bitte“ an das BfArM komme „im Ergebnis der Wirkung eines Nichtanwendungserlasses gleich“. Solche Erlasse von Ministerien an nachgeordnete Behörden, rechtskräftige Urteile zu übergehen, sind rechtspolitisch hoch umstritten und bisher nur aus dem Steuerrecht bekannt.

Die FDP-Politikerin Helling-Plahr ist daher überzeugt, dass auch die übrigen Antragsteller keine Chance haben. Und Betroffene klagen müssen, wenn sie sich gegen die Ablehnung wehren wollen: „Jedem einzelnen der abgelehnten Antragsteller bürdet Jens Spahn mit seinem Dekret den langwierigen Rechtsweg auf“. Nach Tagesspiegel-Informationen sind bislang sieben entsprechende Fälle anhängig, überwiegend beim Verwaltungsgericht Köln. Auch das Bundesverwaltungsgericht wird am 6. Juni 2019 erneut über einen Sterbehilfe-Fall entscheiden.

Fünf Varianten spielen die Beamten durch - das Urteil zu befolgen, wird verworfen        

Andere Handlungsalternativen waren von Spahn zuvor abgelehnt worden. So hatte die zuständige Abteilung im BMG zunächst als „Variante 1“ vorgeschlagen: „Weiter nicht entscheiden über vorliegende Anträge, weiter hinauszögern“. Diese passive Haltung sei jedoch „politisch immer schwerer durchzusetzen. „Juristisch ist sie das ohnehin nicht“. Die Medien zeichneten zudem das Bild einer untätigen Bundesregierung, die Menschen einfach sterben ließe. „BMG wirkt in dieser Darstellung zynisch“. Als „Variante 2“ wurde eine „BMG-Anweisung“ vorgeschlagen, das Urteil zu übergehen, auch wenn das „unter rechtsstaatlichen Aspekten nicht unheikel“ sei. „Variante 3“, ein verfassungsgerichtliches so genanntes Normbestätigungsverfahren, wurde als „politisch kaum umsetzbar“ deklariert. „Variante 5“, dem Urteil des Bundesgerichts „Folge leisten wie es die Regel bei obersten Bundesbehörden ist“, wurde ebenfalls verworfen: Es würde „die Tür zur staatlichen Mitwirkung am assistierten Suizid geöffnet“.

Mit einem Post-it-Zettel stellt Spahn die Weichen

„Variante 4“, das Vorhaben, gemeinsam mit der SPD ein Verbot festzuschreiben, tödliche Betäubungsmittel auszugeben („Das wäre der Königsweg“), scheiterte am Parlament. Zwar hatte Spahn ausweislich der Akten dem BfArM noch im April 2018 mitgeteilt, mit SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles und dem damaligen CDU-Fraktionschef Volker Kauder sei bereits „vereinbart, eine Klarstellung im Betäubungsmittelgesetz zu erreichen (also Verbot der Abgabe von Betäubungsmitteln)“. Doch die SPD-Abgeordneten wollten dabei nicht mitmachen. Am 16. Juni klebte Spahn einen gelben Post-it-Zettel in die Akten: „Da SPD nicht Änderung/Klarstellung will, bleibt aus meiner Sicht nur Option 2. Bitte vorbereiten“.

Ende Juni ging das Stroppe-Schreiben an das BfArM, danach wurde mit der Ablehnung der Anträge begonnen. Mittlerweile werden auch nur noch ein bis drei neue Anträge pro Monat gestellt. Betroffenen ist klar, dass sie ohnehin abgewiesen werden. Im BMG war den Beteiligten klar, dass dieses Vorgehen eine „politische und öffentliche Angriffsfläche“ bietet. Zudem wurde auf das Risiko hingewiesen, dass wegen der „Außenwirkung“ des Briefs Klagen künftig direkt an das BMG gerichtet werden könnten.

95.200 Euro zahlten die Behörden für ein Rechtsgutachten - dessen Ergebnis feststand

Um seine umstrittene Haltung in der öffentlichen Diskussion abzusichern, hatte das Ministerium bei dem früheren Bundesverfassungsrichter und erklärtem Sterbehilfe-Gegner Udo Di Fabio frühzeitig ein Rechtsgutachten bestellt, in dem dieser die Ansicht vertrat, die Entscheidung der Leipziger Richter von 2017 sei verfassungsrechtlich unhaltbar. Dieses Gutachten diente offenkundig weniger der fachlichen Beratung des Ministeriums als der Außenwirkung. In einem BMG-Vermerk heißt es zum Gutachtenauftrag: „Ziel sollte sein, für die öffentliche und politische Kommunikation anhand eines solchen Gutachtens klarstellen zu können, dass das Bundesverwaltungsgericht hier eine alles andere als eindeutige oder vollzugsfähige und im Ergebnis fehlgehende Entscheidung getroffen hat.“

Das BfArM hat dennoch dafür 95.200 Euro an den Gutachter überwiesen, wie es dem Tagesspiegel jetzt bestätigt hat. „Der Gesundheitsminister stützt sich auf ein Gutachten, dessen Ergebnis schon vor Erstellung feststand und für das er Steuergelder verschwendet hat“, sagt die FDP-Politikerin Helling-Plahr dazu. „Die Betroffenen brauchen aber schnelle Rechtssicherheit, um selbstbestimmt sterben zu können.“

Hilfsangebote

Haben Sie dunkle Gedanken? Wenn es Ihnen nicht gut geht oder Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das können Freunde oder Verwandte sein. Es gibt aber auch eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie sich melden können.

Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern sind 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.

Weiterhin gibt es von der Telefonseelsorge das Angebot eines Hilfe-Chats. Außerdem gibt es die Möglichkeit einer E-Mail-Beratung. Die Anmeldung erfolgt – ebenfalls anonym und kostenlos – auf der Webseite. Informationen finden Sie unter: www.telefonseelsorge.de

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