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Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisiert die OSZE-Sturkturen.

© dpa

Gipfeltreffen: Merkel bescheinigt der OSZE erhebliche Mängel

Erstmals seit elf Jahren findet ein OSZE-Gipfel statt. Anliegen gibt es so viele wie Mitgliedsstaaten. Die Kernfrage aber ist die Zukunft der Organisation selbst.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat nach den Worten von Bundeskanzlerin Angela Merkel zahlreiche Defizite in der Konfliktlösung zu bewältigen. "Die OSZE hat noch einiges zu tun, damit wir wirklich zu einem kooperativen Sicherheitsforum werden können auf der Basis von Demokratie und Freiheit", sagte Merkel beim OSZE-Gipfel in Kasachstans Hauptstadt Astana.

Russlands Präsident Dmitrij Medwedjew forderte die Reformierung der OSZE in Europa. Die OSZE habe bereits an Potenzial und Ansehen verloren, sagte Medwedjew. "Arbeitsstil und Arbeitsweise müssen modernisiert werden." Es fehlten klare Regeln. Auch er betonte, absolute Priorität habe eine friedliche Beilegung von Konflikten. "Territoriale Fragen dürfen nicht mit Hilfe militärischer Gewalt gelöst werden." Er warf Georgien vor, gegen dieses OSZE-Prinzip 2008 im Konflikt mit seiner abtrünnigen Region Südossetien verstoßen zu haben. Das sei "absolut unzulässig" gewesen. "Heute dürfen wir nicht von den OSZE-Prinzipien abweichen."

US-Außenminister Hillary Clinton deutete eine andere Haltung an: "Wir brauchen eine sinnvolle OSZE-Präsenz in Georgien." Auf die Forderung Medwedjews nach klareren Regeln der OSZE entgegnete Clinton: "Es geht nicht um neue Rechte, sondern um die Einhaltung der bestehenden Regeln."

Merkel beklagte, durch die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Russland und Georgien 2008 habe die OSZE eine "schwere Vertrauenskrise" erlebt. Schritt für Schritt werde wieder Vertrauen aufgebaut. Dabei helfe auch die Annäherung von Russland an die Nato. "Wir bekennen uns zur territorialen Integrität und Souveränität Georgiens." Die Sicherheit des Landes müsse weiter gestärkt und die humanitäre und menschenrechtliche Lage verbessert werden. Die OSZE müsse in ganz Georgien wieder eine sichtbare Präsenz zeigen.

Eindringlich forderte die Bundeskanzlerin die Einhaltung der Menschenrechte in allen OSZE-Staaten. "Menschenrechtliche Garantien wie Demokratie, Meinungs- und Medienfreiheit müssen umfassend in all unseren Mitgliedstaaten umgesetzt werden." Wie andere Staats- und Regierungschef zuvor nannte Merkel kein Land beim Namen. Kasachstan, das in diesem Jahr als erste Ex-Sowjetrepublik den OSZE-Vorsitz innehat, erfüllt die Standards der Organisation etwa bei der Presse- und Versammlungsfreiheit nicht.

Mehr als ein Viertel aller Staaten der Welt ist beim Gipfel mit hochrangigen Abgesandten vertreten, um in der kasachischen Hauptstadt Astana über regionale und überregionale Konflikte zu beraten. Der Gastgeber, Kasachstans autoritär regierender Präsident Nursultan Naserbajew, begrüßte die Teilnehmer am frühen Mittwochmorgen in Astana.

Für die westlichen Staaten steht die Transnistrien-Frage weit oben auf der Tagesordnung. Der Konflikt in der an die Ukraine grenzenden abtrünnigen moldauischen Provinz schwelt seit der Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepublik 1991. Transnistrien hat sich 1992 de facto abgespalten, wird aber von keinem Land anerkannt.

Der schmale Landstreifen hat nur etwa eine halbe Million Einwohner und ist zwar wirtschaftlich irrelevant. Transnistrien gilt aber als letzter heikler Territorialkonflikt in direkter EU-Nähe. Zum einen sind dort noch russische Soldaten stationiert. Die Nato hatte Russland deshalb zuletzt im November 2008 aufgefordert, diese abzuziehen. Zum anderen gilt Transnistrien als Umschlagplatz für Drogen- und Waffenhändler.

Mit Blick auf den Konflikt sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, in den Aktionsplan der OSZE müssten Gespräche zwischen den USA, Russland, der Ukraine, EU und der OSZE auf der einen Seite und Moldau und Transnistrien auf der anderen Seite aufgenommen werden (5-plus-2-Prozess). "Wenn es zu formalen Gesprächen kommt, gibt es eine gute Grundlage, dass wir Fortschritte erzielen."

Den Anstoß zum Auftauen dieses frozen conflict hatten Bundeskanzlerin Merkel und Russlands Präsident Medwedjew im Juli gegeben: Damals trafen beide die Vereinbarung, dass Russland sich für die Lösung ungelöster Regionalkonflikte in Europa einsetzt und im Gegenzug näher an die EU herangeführt wird.

Auch in dem Konflikt zwischen Aserbajdschan und Armenien um die von Armenien kontrollierte Region Berg-Karabach müsse es in nächster Zeit vorangehen, sagte Merkel. "Hier kann man mit dem Erreichten, obwohl vieles unternommen wurde, noch nicht zufrieden sein."

US-Außenministerin Clinton forderte die OSZE auf, sich mehr in Afghanistan zu engagieren. "Wir brauchen eine stärke Rolle in Afghanistan. Die Instabilität in Afghanistan ist gefährlich für die ganze OSZE-Region." Die Welt stehe vor große Herausforderungen und die Demokratie vor großen Gefahren.

Russlands Präsident Medwedjew beklagte auch erneut, dass es noch keine Visa-Freiheit zwischen Russland und der Europäischen Union gebe. Schon bei Gründung der Vorläufer-Organisation der OSZE, der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975, sei beschlossen worden, Visa-Verfahren zu erleichtern. "Heute sind wir keinen Schritt weiter. Das führt nicht zu mehr moralischem Ansehen der OSZE." Neben der Abschaffung der Visapflicht zwischen seinem Land und der EU setzte sich der Kremlchef auch erneut für einen europäischen Sicherheitsvertrag ein.

Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) wurde 1975 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges als wichtiges Forum für Dialog und Verhandlungen zwischen Ost und West gegründet wurde. Ähnlich wie die Nato sucht auch die OSZE nach dem Ende der Blockkonfrontation ihre neue Rolle. Das letzte Treffen der OSZE fand 1999 in Istanbul statt.

Wichtige Themen des Gipfeltreffens sind auch der Drogen- und Menschenhandel. Außerdem soll die Situation in Afghanistan und in Kirgistan nach den blutigen Unruhen in diesem Jahr erörtert werden.

Nach den Worten von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon steht die Organisation vor einer neuen Ära. Er warb für eine engere Zusammenarbeit der OSZE mit den Vereinten Nationen. Ban nannte als zentrales Betätigungsfeld der OSZE Zentralasien; hier gebe es mehrere "festgefahrene Konflikte". Auch in Afghanistan solle sie sich stärker engagieren – Afghanistan ist selbst OSZE-Mitglied.

Gastgeber Naserbajew bezeichnete die Krisenerkennung und Konfliktlösung im instabilen zentralasiatischen Raum als Hauptaufgabe der Organisation im nächsten Jahrzehnt. Dafür solle die OSZE mit Nato und EU kooperieren. Der blutige Volksaufstand im April in Kasachstans Nachbarstaat Kirgistan hätte sich zum Brandherd für neue Konflikte ausweiten können, die OSZE aber habe befriedend wirken können.

Dass ausgerechnet Kasachstan in diesem Jahr den OSZE-Sitz übernahm und damit den Gipfel austragen darf, ist für nicht wenige Menschenrechtsaktivisten ein schlechter Scherz. Der kasachische Präsident wird wegen seiner autoritären Regierungsführung international kritisiert. Die Bundesregierung stellte erst kürzlich fest, dass die Menschenrechtslage und die rechtsstaatlichen Strukturen erhebliche Defizite aufweisen. Meinungs- und Pressefreiheit seien ebenso eingeschränkt wie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Der Strafvollzug entspreche nicht westlichen Standards.

OSZE-Generalsekretär Marc Perrin de Brichambaut hingegen nahm das Land in Schutz. Immerhin müsse anerkannt werden, dass die frühere Sowjetrepublik sich für eine Anbindung an den Westen entschieden und dabei "gute Beziehungen zu Russland beibehalten" habe. Das sei wichtig. Die demokratischen Reformen in dem zentralasiatischen Land würden sich vollziehen, wenn die Umstände es erlaubten. Kasachstan sei sich der Vorwürfe bewusst. Es liege aber nicht in seiner "Kultur, Dinge unter Druck zu tun". Perrin lobte Naserbajew für die Gestaltung seiner diesjährigen OSZE-Präsidentschaft und die Ausrichtung des Gipfels. Dies sei "eine extrem schwierige Aufgabe", die viel Geld koste.

Auch Ban Ki Moon bescheinigte Kasachstan eine gute Amtszeit. In der Menschenrechtsfrage schlug er allerdings einen anderen Ton an. Ohne das Land zu nennen, beklagte Ban die Verletzung von Menschenrechten. Die OSZE stehe oft vor diesem Problem – "oft werden auch die eigenen Prinzipien missachtet".

Kasachstan ist für Deutschland der viertwichtigste Erdöllieferant und gilt als stabil in der ansonsten unruhigen Region Zentralasien. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wollte sich am Mittwoch auch mit der kirgisischen Präsidentin Rosa Otunbajewa treffen. Im April war in Kasachstans Nachbarstaat Kirgistan Staatschef Kurmanbek Bakijew bei einem blutigen Volksaufstand gestürzt worden. (AFP/dpa/rtr)

Quelle: Zeit Online

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