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Großbritannien: Briten müssen sparen – und verlieren die Geduld

Auf der Insel gibt es klassenkämpferische Töne wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Reformen von Premier Cameron werden das Land verändern.

Es ist fast 20 Jahre her, dass der Winter in Großbritannien so kalt gewesen ist – damals regierte noch die Regierungschefin Margaret Thatcher. Aber nicht nur Schnee und Eis, auch die Sparmaßnahmen machen die Stimmung im Land frostig. Monatelang staunte man, wie stoisch die Briten die drakonischsten Sparmaßnahmen in Europa auf sich nahmen und gemäß den Meinungsumfragen sogar immer noch hinter der Regierungskoalition der Konservativen und Liberaldemokraten stehen. Aber der Protest regt sich und gewinnt klassenkämpferische Züge. Daran war man in Großbritannien seit Jahrzehnten nicht mehr gewöhnt. Sind die Proteste gegen die Verdoppelung der Studiengebühren ein Wendepunkt? Diese Frage stellen sich Bevölkerung und Regierung mit spürbarer Nervosität.

„Die Tories zerstören Gemeinschaft, Solidarität und Chancengleichheit. Das kann einem Angst machen“, fasst ein friedlich demonstrierender Student knapp seine Sicht der Universitätsreformen zusammen. Er spricht für eine Jugend, die durch das Sparprogramm ihre Zukunft bedroht sieht.

Militanter formulieren es Gruppen wie „Counterfire“ oder „UK Uncut“, die gegen jegliche Sparmaßnahmen sind und lieber Steuerhinterzieher – oder was sie dafür halten – zur Kasse bitten würden: Die Regierung „zerstört Leistungen für die Ärmsten und Verwundbarsten und erlaubt, dass Reiche Milliarden an Steuern hinterziehen“. So steht es in einem Pamphlet der Gruppe „UK Uncut“. Am Samstag wollten sie per Twitter wieder einen sogenannten „Pay Day“ (Zahltag) organisieren. Es wurde nicht ausgeschlossen, dass die Demonstrationen erneut in Krawalle ausarten.

Die Konservativen hatten bereits im Wahlkampf ihr Sparprogramm angekündigt und handelten es nach der Wahl mit dem Koalitionspartner aus. Im Oktober legte dann Schatzkanzler George Osborne den Finanzrahmen vor. Inzwischen ist die Lage ernst, denn zum ersten Mal seit dem Frühjahr stieg die Arbeitslosigkeit wieder an. Im öffentlichen Dienst gab es die ersten Entlassungen. 370 000 Jobs sollen in den nächsten vier Jahren abgebaut werden.

Es gibt keine einzige Sparmaßnahme der Regierung, die nicht Proteste auslöst. Eltern und Schüler protestieren gegen die Streichung von Schulneubauten. Zeitungen warnen vor einer Verbrechenswelle, weil bei der Polizei die Entlassungen beginnen – als Vorbereitung auf Budgetkürzungen von 18 Prozent. Der rechte Flügel der Tories ist entsetzt über die Streichung von 3000 Gefängnisplätzen und wittert ein liberales Komplott. Die Labour-Partei sieht durch die Schließung von fast einem Viertel aller Gerichte in England und Wales wiederum das „Fundament der britischen Gerechtigkeit“ zerstört.

Aus den Städten rings um London ist die Warnung zu hören, dass die Zuwanderung einkommensschwacher Familien aus dem Zentrum der Hauptstadt ihre Sozialdienste unter Druck setze. Dabei hat der Entzug von Wohngeldern für teure Wohnungen in London noch gar nicht richtig begonnen. Nicht einfacher wird die Lage dadurch, dass die Kommunen in den nächsten Jahren 27 Prozent ihrer Regierungszuwendungen verlieren – im Tausch für mehr finanzielle Freiheit. Es macht sich bereits bemerkbar, dass die Dienste für Alte, Behinderte oder gefährdete Kinder knapper werden.

Der Gesundheitsausschuss stehe vor den schwierigsten Jahren seiner Geschichte, warnen Parlamentarier: Weitreichende Strukturreformen sollen Gelder, die bisher in der Bürokratie versickerten, direkt in den Gesundheitsdienst lenken. „Kein Gesundheitswesen auf der Welt hat versucht, was wir vorhaben“, sagte der Chef des Gesundheitsdienstes, Sir David Nicholson.

Die von Premierminister David Cameron verfolgte Kombination aus radikalen Reformen und noch radikaleren Sparmaßnahmen wird das Land verändern. Aber wie? Die Labour-Partei, Gewerkschaften, protestierende Studenten, die militanten Flash-Mobber – alle glauben, dass die Beziehungen zwischen der Gesellschaft und dem Individuum grundsätzlich abkühlen werden.

Die Regierungskoalition stimmt dieser Einschätzung zu. Sie will nicht nur die Staatsfinanzen retten, sondern die Gesellschaft modernisieren und zukunftsfähiger machen. In Windsor, der Gemeinde der Queen, übernehmen Freiwillige „Straßenpatenschaften“ und schippen Schnee, streuen Salz und sammeln Müll von der Straße. Ein Mitwirkungsmodell, das den Bürgerstolz hebt und die Selbstverantwortung stärkt. Aber wenn es bedeutet, dass man sich das Studium in Zukunft nicht mehr vom Staat bezahlen lassen darf, sondern umgerechnet rund 7000 Euro pro Studienjahr hinblättern muss, dann geht das vielen zu weit.

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