zum Hauptinhalt

Politik: Härtefall für die Kassen

Die Überforderungsgrenze bei den Zusatzprämien belastet Versicherer mit vielen Geringverdienern

Berlin - Im Streit um die Gesundheitsreform hat die SPD im Vorfeld einen Punkt als nicht verhandelbar erklärt: Die Belastung der gesetzlich Krankenversicherten durch eine mögliche Zusatzprämie dürfe ein Prozent ihres jeweiligen Haushaltseinkommens nicht übersteigen. Das eine Prozent ist tatsächlich stehen geblieben im Kompromiss mit der Union. Doch ausgerechnet diejenigen, die eine Begrenzung der Prämie am dringendsten gebraucht hätten, fielen durchs Raster: Arbeitslose und Rentner, die im Monat weniger als 800 Euro zur Verfügung haben. Krankenkassen dürfen künftig Zusatzprämien von ihren Versicherten verlangen, wenn das Geld, das sie aus dem Gesundheitsfonds zugewiesen bekommen, nicht ausreicht. Bei Prämien bis zu acht Euro sollen die Einkommensverhältnisse aber keine Rolle spielen. Das heißt zum Beispiel, dass bei denen, die nicht mehr als 400 Euro haben, auch zwei Prozent für die Zusatzprämie draufgehen können. Und dass sie bei acht Euro Prämie genauso viel zahlen müssten wie Gutverdiener mit 10 000 Euro im Monat.

Besonders betroffen sind die Allgemeinen Ortskrankenkassen, die traditionell die schlechter Verdienenden versichern. Gleich 17 Prozent ihrer rund 25 Millionen Mitglieder kommen im Monat auf weniger als 800 Euro. Jeder Sechste muss folglich einen höheren Teil seines Einkommens für die Prämie ausgeben als besser verdienende Versicherte.

„Besonders perfide“ nennt der Leiter des wissenschaftlichen Instituts der AOK, Klaus Jacobs, den Sockelbetrag. Die Begründung von SPD-Chef Kurt Beck, man habe Bürokratie vermeiden wollen, sei „erkennbar vorgeschoben“. Indem die Ein-Prozent-Überforderungsgrenze nun auf beitragspflichtige Einkommen – und nicht mehr wie bei den Zuzahlungsbefreiungen auf das Bruttohaushaltseinkommen – bezogen werde, gehe der bürokratische Aufwand bereits erheblich zurück. Tatsächlich „ebnet die SPD den Weg zur (vorerst kleinen) Kopfpauschale“. Doch im Unterschied zu allen Prämienmodellen würden „Kleinstverdiener überproportional abkassiert“, sagt Jacobs.

Da das Thema die AOK besonders betrifft, hat sie gleich eine Studie zu den Wirkungen des auch in der SPD höchst umstrittenen Sockelbetrags erstellen lassen. Allerdings plagten sich die Verfasser mit einer Unklarheit. Dass Zuschläge bis zu acht Euro ohne Einkommensprüfung erhoben werden dürfen, könne zweierlei bedeuten, schreiben sie. Erstens: Krankenkassen, die mehr verlangen, dürfen bei Geringverdienern immer diese acht Euro erheben. Oder zweitens: Wenn sie mehr einfordern, müssen sie eine Einkommensprüfung sämtlicher Mitglieder vornehmen – und dürfen dann auch von ihren Geringverdienern nur höchstens ein Prozent des Monatseinkommens erheben. Offenbar spricht einiges für die erste Interpretation, denn die zweite würde einiges Absonderliche nach sich ziehen. Es käme, so urteilen die Autoren, „nicht zu einer Verringerung, sondern zu einer Verschärfung der Wettbewerbsverzerrungen“. Kassen mit niedriger Prämie von bis zu acht Euro würden von härtefallbedingten Beitragsausfällen verschont, sie könnten die acht Euro ja von jedem verlangen. Kassen, die aufgrund schlechterer Mitgliederstruktur eine höhere Prämie erheben müssten, würden weiter belastet: durch Beitragsausfälle wegen vieler Härtefälle.

Hinzu käme eine ganz absurde Auswirkung: Geringverdiener mit Einkommen bis zu 799 Euro täten gut daran, in eine Kasse mit höherem Zusatzbeitrag zu wechseln“. Denn dort könnten sie dann, weil ja ihr Einkommen vom ersten Euro an berücksichtigt wird, bei der Prämie bares Geld sparen. „Die gewollten wettbewerblichen Anreize würden mit dieser Interpretation der Härteregelung bei Geringverdienern somit auf den Kopf gestellt.“

Mit den höchsten Beitragsausfällen durch Härtefälle rechnet die AOK in Mecklenburg-Vorpommern. Es folgen Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen, Schleswig-Holstein, und das Saarland. Die wenigsten Härtefälle seien in Baden- Württemberg zu erwarten. Bei Prämien von zehn Euro wären 58 Prozent aller AOK-Mitglieder von der Härtefallregelung betroffen. Bei 15 Euro wären es 96 Prozent, bei 20 Euro sämtliche AOK-Mitglieder. Die Tatsache, dass Kassen mit vielen einkommensschwachen Mitgliedern gerade aufgrund der Überforderungsgrenze von ihren restlichen Mitgliedern höhere Zusatzbeiträge erheben müssen, sei „vollständig ignoriert“ worden, ärgert sich Jacobs.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false