zum Hauptinhalt

Prozessauftakt zum Putsch in der Türkei 1980: „Hast du es auch nur einen Tag bereut?“

In der Türkei beginnt der Prozess gegen Anführer des Staatsstreichs von 1980. Keine andere Intervention hat in der türkischen Gesellschaft so tiefe Wunden geschlagen. Mehrere Opfer des Putsches treten als Nebenkläger auf.

Es war nur ein Stück trockenes Brot, aber für Halis Özdemir war es das größte Glück auf Erden. Özdemir saß in einer fensterlosen Zelle im berüchtigten Militärgefängnis Mamak in Ankara, es war Februar und bitterkalt. Seine Zelle war verdreckt mit den Exkrementen vorheriger Insassen und so klein, dass er nicht aufrecht stehen oder seine Beine ausstrecken konnte. Und Özdemir hatte Hunger, seit Tagen hatte er nichts zu essen bekommen. Da schob ein Soldat aus Mitleid die Brotrinde, die ein anderer Wächter angebissen und achtlos weggeworfen hatte, durch einen Spalt unter der Tür in Özdemirs Zelle hinein. „In meinem ganzen Leben habe ich nie etwas Köstlicheres gegessen“, sagt Özdemir heute, mehr als 30 Jahre später. Er hat Tränen in den Augen.

Halis Özdemir, 54, sieht aus, wie man sich einen freundlichen türkischen Onkel vorstellt. Kugelrunde Figur, weißer Haarkranz, weißer Schnurrbart, ein nettes Wort für jeden, den er trifft. Wenige Monate nach dem türkischen Militärputsch vom 12. September 1980 wurde der damals 23-Jährige verhaftet, gefoltert und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

Jetzt will Özdemir dem Putschführer von damals zum ersten Mal ins Auge sehen: Am heutigen Mittwoch beginnt in Ankara das Gerichtsverfahren gegen den Ex-General und Ex-Staatschef Kenan Evren, der 1980 den Staatsstreich anführte. Und Özdemir will im Gerichtssaal sein und dem Junta-Chef eine Frage stellen: „Hast du es auch nur einen Tag lang bereut?“

Vier Regierungen haben die türkischen Militärs seit 1960 von der Macht verdrängt, doch keine Intervention hat so tiefe gesellschaftliche Wunden geschlagen wie der „12. September“, wie der 1980er Putsch von den Türken genannt wird. Evrens Staatsstreich beendete damals bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Gruppen auf den Straßen der Türkei und wurde deshalb zunächst von vielen begrüßt. Doch dann wurde das Ausmaß der Repression deutlich: 650 000 Festnahmen, mehr als 200 000 Gerichtsverfahren, 50 Hinrichtungen, 171 Foltertote, 95 Menschen „auf der Flucht erschossen“, weitere starben im Hungerstreik. Zehntausende wurden ausgebürgert und zur Flucht ins Ausland gezwungen.

Unter den Hinrichtungsopfern war der damals erst 17-jährige Erdal Eren. „Sollen wir ihn etwa durchfüttern statt ihn aufzuhängen?“, war Evrens Reaktion damals. Noch heute kann fast jeder Türke von einem Verwandten oder Bekannten erzählen, der damals unter dem Putsch zu leiden hatte. Erens Bruder gehört heute zu mehreren hundert Betroffenen, die wie Özdemir beantragt haben, an dem Prozess gegen Evren als Nebenkläger teilnehmen zu dürfen.

Özdemir hatte als Mitbegründer der islamistischen Gruppe Akincilar Dernegi vor dem Staatsstreich mit seinen Kollegen beschlossen, sich aus der Gewalt zwischen links und rechts herauszuhalten. Es nützte ihm nichts. Er wurde verhaftet und nach Mamak gebracht. Die Wächter dort verbanden ihm die Augen mit einem Stück Stoff. „Hier ist es“, sagt Özdemir und hält einen Ordner in die Höhe, in dem er Dokumente seines Gerichtsverfahrens aufbewahrt und auf dessen Deckel ein grob gewebtes, rot-weiß-blaues Band aufgeklebt ist. „Ich werde es Evren im Gerichtssaal zeigen.“

In Mamak begann Özdemirs Leidensweg mit der Internierung in der fensterlosen Zelle. Die Wächter ließen ihn in der Zelle die Nationalhymne singen und Reden des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk rezitieren – eintausend Mal hintereinander. Mehrmals wurde er aus dem Verließ gezogen und gefoltert.

Özdemir wurde verprügelt, mit Elektrokabeln misshandelt und am sogenannten Strappado aufgehangen: Dabei wird ein Häftling an den Händen in die Höhe gezogen, während die Füße mit einem Gewicht beschwert werden. „Du wirst geschlagen und hörst die Schreie der anderen Gefolterten“, sagt Özdemir. „Wie können Menschen so etwas tun?“

Vierzig Tage ging das so, von Ende Januar bis März 1981. Dann kam Özdemir vor Gericht und erhielt eine vierjährige Haftstrafe wegen islamistischer Umtriebe. „Wir waren 26 Häftlinge in einer Zelle von 20 Quadratmetern, wir schliefen Rücken an Rücken. Toilettengang einmal am Tag. Der Gestank war bestialisch.“

Warum das alles? Das ist die Frage, die Özdemir bis heute umtreibt. Dass er beantragt hat, im Prozess gegen Evren und den ehemaligen Luftwaffenchef Tahsin Sahinkaya, das einzige andere überlebende Mitglied der damaligen Junta, als Nebenkläger aufzutreten, will er nicht als Abrechnung mit der Armee an sich verstanden wissen. „Ich tue das nicht, um die Armee zu beleidigen. Ich tue das, damit sich so was nicht wiederholt. Man ist nur einmal auf der Welt.“

Erst das Referendum 2010 ermöglichte den Prozess gegen den Junta-Chef

Der Prozess gegen den inzwischen 94-jährigen Evren habe sehr lange auf sich warten lassen, sagt Özdemir. Evren gab die Macht 1982 zwar wieder an die Zivilisten zurück, doch er sorgte vor. In die noch heute gültige, unter der damaligen Militärherrschaft geschriebenen Verfassung ließ er einen Passus einfügen, der die Putschgeneräle vor Strafverfolgung schützte. Dann ließ er sich zum Staatspräsidenten wählen. Nach dem Ende seiner Amtszeit zog er sich an die Ägäis zurück und malte Bilder, vor allem seine Aktmalerei löste hin und wieder Schlagzeilen aus. Im ganzen Land wurden Schulen und Straßen nach ihm benannt.

Der General fühlte sich sicher – mit einigem Recht. Die Militärs blieben mächtig. 1997 drängten sie eine islamistische Regierung aus dem Amt. Noch vor fünf Jahren fanden die Militärs nichts dabei, öffentlich mit einem Staatsstreich gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zu drohen.

Erst die EU-Reformen unter Erdogan änderten die Lage. Der Einfluss der Generäle wurde Stück für Stück zurückgedrängt. Offiziere, die nach Überzeugung der zivilen Staatsanwaltschaft dabei waren, einen neuerlichen Putsch zu planen, kamen vor Gericht. Dann, im Jahr 2010, genau am 30. Jahrestag des Staatsstreiches vom 12. September, wurde auch Evren angreifbar. In einer Volksabstimmung schafften die Türken den Immunitätsparagrafen ab, der die Generäle bis dahin vor Ermittlungen geschützt hatte.

Nicht nur wegen seiner persönlichen Erlebnisse und wegen des Leides, das der Putsch über viele seiner Freunde gebracht hat, will Özdemir nun dem Ex-General Evren ins Gesicht sehen. „Auch die jüngeren Militärs sollen durch den Prozess verstehen, dass sie irgendwann einmal Rechenschaft ablegen müssen, wenn sie so etwas versuchen.“ Wichtig sei der Prozess auch für die türkischen Medien, von denen einige vor 1980 nach dem Putsch gerufen hätten.

Für Evren selbst empfindet Özdemir nach wie vor so etwas wie Respekt. „Er war doch unser Präsident, ein Staatsmann.“ Es geht ihm auch nicht darum, einen 94-jährigen Greis ins Gefängnis zu schicken. Selbst seine Peiniger von damals will er nicht unbedingt hinter Gitter sehen. „Das waren doch auch nur junge Kerle wie ich.“ Özdemirs Mission gilt vielmehr einer Mentalität, die er in der Türkei nach wie vor sieht. „Das hier ist ein sehr schönes Land, es hat sehr gute Leute. Aber es gibt eine kleine Minderheit derer, die den Putsch wollen. Nicht unsere ganze Armee ist so.“

Das ist der Grund, warum er Evren seine Frage stellen will, doch eigentlich hat der alte General sie auf seine Art schon beantwortet. Als Evren im vergangenen Herbst von der Staatsanwaltschaft befragt wurde, machte er deutlich, dass er nichts bereut. Das Land sei vor dem Eingreifen der Armee in einer schweren Krise gewesen, sagte er den Staatsanwälten. „Ich würde dasselbe wieder tun.“

Özdemir schüttelt den Kopf, als er an diesen Satz erinnert wird. „Jetzt liegt sein Schicksal erst einmal in den Händen der Justiz“, sagt er. „Und dann muss er sich vor Allah verantworten.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false