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Bundesverfassungsgericht: Höhere Mathematik für Wähler

Mehr Stimmen können die Parteien bei einer Wahl Mandate kosten. Was absurd klingt, ist Bestandteil des deutschen Wahlsystems. Das Bundesverfassungsgericht überprüft die Beschwerden zweier Kläger ab Mittwoch.

Das Wahlsystem zur Bestimmung des Bundestags klingt eigentlich ganz einfach: Die Erststimme gilt dem jeweiligen Wahlkreiskandidaten einer Partei und die Zweitstimme der Landesliste einer Partei. Die Auswirkung der beiden Kreuzchen kann allerdings groteske Züge annehmen: Immer wieder kommt es vor, dass eine Partei mehr Sitze im Bundestag erhalten hätte, wenn weniger Zweitstimmen auf sie entfallen wären, oder umgekehrt, dass sie einen Sitz weniger bekommt, weil in einem Bundesland zuviel Zweitstimmen auf sie entfallen sind. Ursache ist das so genannte negative Stimmgewicht.

Am Mittwoch nun prüft das Bundesverfassungsgericht, ob es sein darf, dass eine Wahlstimme für eine Partei gegen sie wirkt. Zwei Wähler beanstanden einen rechnerischen Effekt des deutschen Wahlrechts, nach dem in bestimmten Konstellationen ein Gewinn von Zweitstimmen einen Verlust von Mandaten zur Folge hat. Diese Besonderheit hatte bei einer Nachwahl zur letzten Bundestagswahl am 2. Oktober 2005 in Dresden eine Rolle gespielt, die wegen des Todes einer Direktkandidatin notwendig geworden war. Damals war es für die CDU günstiger, weniger als 41.225 Zweitstimmen zu gewinnen - andernfalls hätte sie ein Abgeordnetenmandat verloren.

Bundestagswahl 1998: SPD verliert ein Mandat wegen zu vieler Stimmen

Negative Stimmgewichte treten zumeist dann auf, wenn eine Partei so genannte Überhangmandate gewonnen hat. Diese Mandate werden bei einer Bundestagswahl dann vergeben, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate errungen hat, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis insgesamt zustehen: Diese Erststimmen-Mandate verfallen nicht, denn alle direkt gewählten Abgeordneten bekommen auf jeden Fall einen Sitz im Bundestag. Die Überhangmandate erhöhen damit die Zahl der regulär vorgesehenen 598 Bundestagssitze. Im derzeitigen Bundestag gibt es 16 Überhangmandate, neun für die SPD und sieben für die CDU.
  
Unter welchen Konstellationen solche Überhangmandate dann zu negativen Stimmgewichten führen können, zeigt das Beispiel der SPD in Hamburg bei der Bundestagswahl von 1998. Damals hatte die SPD alle sieben Direktmandate in Hamburg gewonnen. Weil ihr nach dem Anteil der rund 445.000 Zweitstimmen an den bundesweit 20.181 Millionen SPD-Stimmen aber nur sechs Sitze zustanden, erhielt sie ein Überhangmandat.
  
Wären auf die Hamburger SPD nun 20.000 zusätzliche Zweitstimmen entfallen, hätte sie dieses Überhangmandat nicht bekommen: Dieser Mehranteil von 0,1 Prozent aller SPD-Stimmen hätte zwar die Sitzzahl der SPD im Bundestag insgesamt nicht beeinflusst. Bei der so genannten Unterverteilung in den Ländern allerdings schon: Hamburg hätte ein Mandat mehr bekommen und die SPD in Rheinland-Pfalz wegen ihres knappen Zweitstimmenergebnisses ein Mandat weniger. Damit hätte die SPD bundesweit ein Überhangmandat eingebüßt, und die SPD-Abgeordnete Birgit Roth aus Speyer wäre damals nicht in den Bundestag eingezogen.

In Stadtstaaten und neuen Bundesländern reichen wenige Stimmen, um Wählerwillen umzudrehen

  
Die beiden Kläger weisen nach, dass vor allem in kleinen Stadtstaaten und in den neuen Ländern bereits wenige Stimmen mehr oder weniger ausreichen, um den Wählerwillen in sein Gegenteil zu verkehren: Hätten 1990 in Bremen 8000 Wähler weniger für die SPD gestimmt, hätte die Partei einen Sitz mehr bekommen. Und wenn die CDU bei den Bundestagswahlen 2005 in Sachsen 5000 Zweitstimmen mehr erhalten hätte, hätte sie insgesamt einen Sitz weniger.
  
Steht eine Nachwahl an - wie 2005 im Wahlkreis Dresden wegen des plötzlichen Todes der NPD-Direktkandidatin -, können clevere Bürger dementsprechend auch  strategisch wählen, um ihrer Partei nicht zu schaden: Damals wurde kurz vor der Wahl bekannt, dass die CDU bei einer Zweitstimmenanzahl von mehr als 41.225 Stimmen wegen des negativen Stimmgewichts ein Mandat verlieren könnte. Die Wähler verstanden den Hinweis: Während ahnungslose Briefwähler die CDU noch mit gefährlichen 30,5 Prozent und den Koalitionspartner FDP 10,4 Prozent wählten, waren es bei der Urnenwahl nur noch 21,9 Prozent für die CDU und rund 19,2 Prozent für die FDP.

Parteien sollen Direktmandate intern verrechnen
  
Um den Effekt des negativen Stimmgewichts zu vermeiden, plädieren die beiden Kläger dafür, dass Parteien solche überhängenden Direktmandate intern kompensieren sollten - also für jedes Überhangmandat auf ein anderes Mandat verzichtet müssen. Ob Karlsruhe dem folgt, ist völlig offen. 1997 hatten die Verfassungshüter in einem Urteil zur Zulässigkeit von Überhangmandaten allerdings ausdrücklich die unbedingte Gleichheit von Wahlstimmen betont. Das negative Stimmgewicht stand damals noch nicht auf dem Prüfstand.

Mit einem Urteil wird erst in einigen Monaten gerechnet. Dass Karlsruhe nachträglich die Bundestagswahl annulliert, gilt als unwahrscheinlich; in der Geschichte der Bundesrepublik ist ein solcher Fall bisher noch nicht vorgekommen. In Wahlprüfungsverfahren haben die Richter bisher allenfalls Grundsätze für die Zukunft aufgestellt. (nim/AFP/dpa)

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