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Anita Lasker-Wallfisch überlebte Auschwitz und Bergen-Belsen.

© promo

Holocaust-Überlebende Lasker-Wallfisch: "Durch Zufall habe ich überlebt"

Eigentlich hatte sich die heute 92 Jahre alte Jüdin Anita Lasker-Wallfisch geschworen, nie wieder deutschen Boden zu betreten. Doch am Mittwochmittag redet sie im Bundestag.

Wenn ihr Orchester in den vergangenen Jahrzehnten Deutschlandreisen unternahm, fuhr die in England lebende Musikerin Anita Lasker-Wallfisch nie mit. „Ich hätte das als Hochverrat empfunden“, sagt die heute 92 Jahre alte Holocaust-Überlebende. Doch dann sieht sie, dass eine Reise nach Soltau und Celle geplant ist. „Da dachte ich mir, ich will wissen, was aus diesem Belsen geworden ist.“ An diesem Mittwoch ist Lasker-Wallfisch sogar im Deutschen Bundestag in Berlin zu Gast - zur Gedenkstunde anlässlich des 73. Jahrestags der Befreiung des größten NS-Konzentrationslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen am 27. Januar 1945.

Zurück nach Niedersachsen: Das Konzentrationslager Bergen-Belsen liegt zwischen Soltau und Celle. Nach fast 50 Jahren kehrte Lasker-Wallfisch dann doch 1994 an den Ort zurück, an dem sie von November 1944 bis zur Befreiung durch die Briten im April 1945 inhaftiert war. „Ich wollte dort eigentlich nicht mit den Deutschen sprechen, nur gucken“, erinnert sie sich. Aber auch diesen Vorsatz bricht sie.

Während das Orchester vor einem Auftritt auf fehlende Notenständer wartet, spricht sich herum, wer die Frau am Cello ist. „Ein junger Mann kam auf mich zu und fragte, ob er mich zur Gedenkstätte fahren dürfe.“ Völlig untypisch für sie habe sie ihn erstmal nach seinem Alter gefragt und festgestellt, dass er erst nach dem Krieg geboren worden war. „Jetzt benimm dich nicht wie ein Idiot“, habe sie gedacht und sich mit dem jungen Historiker verabredet. Lasker-Wallfisch trug vor mehr als einem Jahr in Bonn während einer Gedenkveranstaltung des Kölner Diözesanrats Abschnitte aus ihrer Lebensgeschichte vor.

"Gib' dem Juden nicht den Schwamm."

Lasker-Wallfisch, 1925 als dritte Tochter eines Rechtsanwalts und einer Geigerin in Breslau (Wroclaw) geboren, lernte früh Cello. Ihre Familie sei „kulturbesessen gewesen“, sagt sie. Samstags las man die literarischen Klassiker, sonntags sprach die Familie nur Französisch. Mit acht Jahren sei sie erstmals mit ihrer jüdischen Herkunft konfrontiert worden. „Ich wollte in der Schule die Tafel abwischen, aber ein Junge sagte, gib' dem Juden nicht den Schwamm.“

Nach der Deportation ihrer Eltern 1942 arbeitete sie in einer Papierfabrik, sie versah täglich rund 5.000 Toilettenpapierrollen mit Etiketten. Mit einer ihrer Schwestern versuchte sie im Juni 1943 zu fliehen - doch am Breslauer Hauptbahnhof war Endstation. Sie wurden verhaftet, kamen ins Gefängnis. Von da aus ging es für Lasker-Wallfisch im Dezember 1943 nach Auschwitz. Sie entging den Sammeltransporten, die für die meisten direkt in der Gaskammer endeten. „Die erste Hürde hatte ich also übersprungen.“

An die Ankunft im Lager erinnere sie sich noch gut, sagt Lasker- Wallfisch heute. Vor allem an schwarze Gestalten, bellende Hunde, Geschrei und einen entsetzlichen Gestank. Man habe sie ausgezogen, den Kopf rasiert und ihr die Nummer „69388“ auf den linken Arm tätowiert. Währenddessen habe ein Mädchen mit ihr geplaudert. „Es wollte wissen, was ich vorher so gemacht habe.“ Sie habe „Cello spielen“ geantwortet, sagt Lasker-Wallfisch.

„Warum ich gerade das erzählt habe, weiß ich nicht.“ Doch dieser Zufall rettete ihr das Leben. Denn es stellte sich heraus, dass dem Orchester des Konzentrationslagers eine Cellistin fehlte. So wurde Lasker-Wallfisch Teil des Mädchenorchesters und entging dem Tod.

1944 kam sie mit einer ihrer Schwestern nach Bergen-Belsen. Ihre Befreiung dort im April 1945 erlebte sie nach eigenem Bekunden wie betäubt: Zum Jubeln habe ihr die Kraft gefehlt. 1946 wanderte sie nach Großbritannien aus. Dort war sie unter anderem Mitbegründerin des Londoner English Chamber Orchestra. Sie heiratete Peter Wallfisch, der 1993 starb.

Die Erfahrungen der Gefangenschaft seien mehr gewesen, als ein ganzes Menschenleben verkraften könne, sagt Lasker-Wallfisch. „Ich war 19 und fühlte mich wie 90.“ Mittlerweile ist sie älter, als sie sich damals fühlte. Die erste Reise nach Deutschland habe ihr gezeigt, dass sie ihre Zeit besser nutze, wenn sie sich für das Erinnern einsetze, anstatt in England zu sitzen und die Deutschen zu hassen, sagt sie. „Zeitzeugen sind wirksamer als Geschichtsbücher.“ (kna)

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