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Hurrikan an der US-Ostküste: Irenes Landgang

Gespenstische Ruhe in New York: kein Hupen auf den Straßen, kein Mensch in Sicht. Und dazu völlige Windstille. Da dachten viele, mit dem Hurrikan werde es schon nicht so schlimm werden. Bis Sonntagmorgen.

Sonntagmorgen, 7.30 Uhr. Der Hurrikan Irene erreicht New York. In Long Beach riss er eine Hütte mit, in der an schöneren Tagen die Lifeguards sitzen, die Rettungsschwimmer. Die Bude krachte ein paar mal heftig gegen das Stahlgeländer der Strandpromenade. Keine zehn Kilometer weiter lag der JFK-Flughafen längst still. Kein Flugverkehr, keine Züge und U-Bahnen, die Tunnel gesperrt. In Sturmböen von mehr als 100 Stundenkilometern war New York auf sich alleine gestellt.

Einmal an Land zeigte Hurrikan Irene seine ganze Wucht. In kürzester Zeit war die Hälfte des Holland-Tunnels geflutet, der New York mit New Jersey verbindet. Dann traten sowohl der East River als auch der Hudson an Manhattans Westseite über die Ufer und fluteten die Stadtautobahn. Der South Street Seaport, ein historischer Hafen und beliebtes Touristenzentrum unterhalb der Brooklyn Bridge war sofort überschwemmt, in manchen Seitenstraßen schoben die Wassermassen Autos umher und Wasser schoss in Sturzbächen in Keller und Erdgeschosse.

Besonders betroffen war auch Battery Park City an der Südspitze Manhattans. Die Wohnsiedlung entstand erst Anfang der 70er-Jahre, als ganz in der Nähe das World Trade Center gebaut wurde und fast eine Million Kubikmeter Aushub zur Landgewinnung vor Manhattan in den Hudson River geschüttet wurden. New York wuchs um einen halben Quadratkilometer, und am Sonntag meldete sich der Fluss zurück. Die Schäden dürften in die Milliarden gehen.

Dafür gab es in und um New York, zumindest nach ersten Erkenntnissen, ausschließlich Sachschäden. Denn die Stadt unter dem Krisenmanagement von Bürgermeister Mike Bloomberg war gut vorbereitet. Rund 370 000 New Yorker aus den niedrigst gelegenen Teilen der Stadt hatten ihre Wohnungen schon am Vortag verlassen und anderswo Unterkunft gesucht: bei Familie und Freunden oder in einem der 91 Auffanglager, die die Stadt in Schulen und Turnhallen eingerichtet hatte. Da gab es Feldbetten, Trinkwasser, Lebensmittel, und man verfolgte Irene so gut es ging im lokalen Fernsehen.

Dort hatten die Meteorologen größte Mühe, den genauen Verlauf des Hurrikans vorherzusagen. Irene hatte schon am Vortag kein typisches Auge mehr, kein Zentrum, keinen klaren Pfad, sondern drehte sich auf einer Fläche von der Größe Europas. Die ersten Schauer erreichten New York am Samstagmittag gegen zwölf Uhr. Es war ein Ausläufer von Irene, während der Hurrikan selbst noch über North Carolina wütete – 600 Meilen südlich. Nie zuvor hatten Meteorologen vor der amerikanischen Küste einen derart großflächigen Sturm gemessen.

Besonders irritierend dabei: die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Irene breitete sich in Sturmzyklen aus. Zwischen den Schauern herrschte eine gespenstische Ruhe in der Millionenmetropole. Kein Fußballgeschrei aus dem Park, kein Hupen auf den Straßen, kein Mensch in Sicht. Dazu absolute Windstille. An den Bäumen zitterte kein Blatt. Da dachten viele, dass es so schlimm nicht werden würde.

Entsprechend vage waren auch die Vorhersagen, wann das Monster wo auflaufen würde und in welcher Stärke. Den ersten Landgang machte Irene bei Kill Devil Hills in North Carolina. Dort waren in kürzester Zeit die Straßen überflutet, bis zum ersten Stock staute sich Wasser zwischen den Wohnhäusern. Die Bilder kamen dem New Yorker Bürgermeister Mike Bloomberg nicht unrecht, denn sie unterstrichen, was er seit Stunden sagte: Irene ist ein brutaler, ein gefährlicher Sturm. Wer die Stadt verlassen könne, solle das auch tun.

Nicht alle folgten diesem Rat, manche forderten das Schicksal geradezu heraus. Vor Long Island waren noch am Samstagnachmittag zwei Kajakfahrer unterwegs, die die Lage auskundschaften wollten und von Rettungkräften an Land geholt werden mussten. Am Strand von New Jersey trafen sich Surfer. Stunden bevor Irene für Lebensgefahr an der Atlantikküste sorgen sollte, suchten sie den Nervenkitzel in ungewöhnlich hohen Wellen.

Jugendlicher Leichtsinn? Auch Senioren stellten sich quer. In der Kasinostadt Atlantic City, wo am Wochenende der Notstand ausgerufen und alle Hotels und Kasinos geschlossen waren, weigerten sich Dutzende Alte, ihre Residenz zu verlassen. „Wir sind stabil gebaut“, schimpfte einer im Interview mit CNN, und eine Frau witzelte: „Eigentlich ist das ja die beste Realityshow.“ Eine gefährliche Show, wie die Behörden immer wieder klar machten. Bloomberg und New Jersey’s Gouverneur Chris Christie hatten mehrfach angekündigt: Wenn der Hurrikan erst einmal kommt, rücken auch Feuerwehr und andere Notfalldienste nicht mehr aus.

Dabei blieb es auch, denn die starken Böen hätten einen koordinierten Einsatz im Sturm unmöglich gemacht. Für die Behörden machte es da keinen Unterschied, ob Irene gerade als Hurrikan oder abgeschwächt als Tropensturm klassifiziert war. Die größte Gefahr hatte man von Anfang an nicht in der Stärke, sondern in der Dauer des Unwetters gesehen. In manchen Gegenden regnete es mehr als vierzig Stunden am Stück. Dadurch war der Boden völlig aufgeweicht, Bäume stürzten um, fielen auf Überlandleitungen. In kurzer Zeit waren drei Millionen Menschen an der Ostküste ohne Strom. Die Versorgung wieder herzustellen dürfte mehrere Tage dauern, teilten die Energiekonzerne mit.

Lesen Sie mehr über die Sicherungsmaßnahmen in den USA auf Seite 2.

In Manhattan griffen die Stromkonzerne ungewöhnlich früh ein. In manchen Straßenzügen kappten sie die Leitungen und stellten die Stromversorgung ab, um schlimmere Schäden zu vermeiden. Die letzten verbliebenen Anwohner hatte man zuvor gewarnt, dass sie stundenlang in ihren Hochhäusern festsitzen könnten, ohne Licht, aber auch ohne Aufzüge.

Überhaupt wurde Vorsorge diesmal groß geschrieben, eine Lektion, die man vom Hurrikan Katrina gelernt hatte, der im Sommer 2005 New Orleans und weite Teile der amerikanischen Golfküste verwüstet und einen Schaden von 45 Milliarden Dollar angerichtet hatte. Damals hatten die Behörden lange gezögert und kaum Frühmaßnahmen eingeleitet. In New Orleans hatte damals am Freitagabend noch ein Footballspiel stattgefunden, ein weiteres am Samstagmorgen in Baton Rouge – nur Stunden, bevor der Sturm kam.

„Hätten wir die Spiele ausgesetzt, hätten wir mehr Kapazitäten gehabt zu evakuieren“, gab Generalleutnant Russel Honoré in einem CNN-Interview zu. Honoré beriet am Wochenende die Behörden in New York und hatte viele der frühen Warnungen durchgesetzt. Footballspiele gab es keine, auf Anweisung der Bloomberg-Regierung blieben auch am Broadway die Lichter aus, Konzerte und Shows wurden abgesagt, die meisten Restaurants blieben geschlossen. Zeitweise sorgte das für Spott. Noch Stunden vor Irenes Landgang vor New York hatten Blogger den Sturm zum „Hype“ erklärt, zur Übertreibung des Jahres. Honoré kümmerte das nicht. „Wir müssen auf Nummer sicher gehen“, erwiderte er auf Vorwürfe, es hätte „too much warning for too little storm“ gegeben – zu viel Wirbel um zu wenig Wind.

Die Hauptstadt Washington kam glimpflich davon. Das Auge des Hurrikans war in der Nacht zu Sonntag mehr als 300 Kilometer östlich über dem Atlantik nach Norden gezogen. Doch mehr als eine Million Menschen im Großraum Washington und den angrenzenden Landkreisen in Virginia und Maryland bekamen die Wucht des Wirbelsturms indirekt zu spüren – durch Stromausfälle, Überflutungen und Schäden an ihren Häusern oder sogar durch Todesfälle. In Virginia starben drei Menschen, darunter ein Elfjähriger in Newport News nahe der Küste, der in seinem Bett von einem in das Haus stürzenden Baum erschlagen wurde. In Queenstown, Maryland starb eine Frau, als ein Baum auf ihr Haus fiel, den Kamin zum Einsturz brachte und die Trümmer durch das Dach drückte.

Aber der größte Teil der Einwohner Washingtons erlebten zumeist nur eine unruhige Nacht. Stark Winde heulten in den Bäumen und rüttelten an Fensterläden. Als am Sonntag der Morgen graute, waren die Straßen mit heruntergerissenen Blättern, Zweigen und Ästen bedeckt. Je nach Lage der Gebäude war auch Wasser in die Keller gelaufen, nachdem es mehr als 20 Stunden geregnet hatte.

In den Landstrichen weiter östlich in Richtung Atlantikküste waren die Schäden und Beeinträchtigungen größer. Am Sonntagmorgen hatten laut „Washington Post“ mehr als eine Million Menschen im Großraum keine Telefonverbindung und keine Elektrizität.

Mitarbeit Christoph von Marschall

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