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Politik: In letzter Minute

Der Gouverneur von Illinois hat alle Todeskandidaten begnadigt – sein Amt hat ihn ins Zweifeln gebracht

Er hat mit sich gerungen. Bis zuletzt wusste er nicht, ob die Entscheidung richtig sein würde. Seine Frau war eingeweiht. Doch selbst sie stellte sich gegen ihn. Schließlich gab sich der Gouverneur des US-Bundesstaates Illinois einen Ruck. „Ich will mit der Maschinerie des Todes nicht mehr herumpfuschen“, sagte George Ryan am Samstag in Chicago in einer einstündigen Rede, die mit Spannung erwartet worden war.

Tags zuvor erst hatte der konservative Republikaner im stillen Kämmerlein einen sensationellen Entschluss gefasst: Er begnadigte mit einem Streich sämtliche 167 Todeskandidaten von Illinois, vier Frauen und 163 Männer. 24 Stunden später gab er seinen Beschluss bekannt. Zu den 157, die Ryan am Samstag nannte, kommen noch zehn Gefangene, die bereits verurteilt waren, aber das Recht auf weitere Anhörungen hatten.

Die Reaktionen darauf waren extrem unterschiedlich. Während die einen jubelten, zeterten die anderen. Nur Ryan blieb ruhig. „Ich kann heute Nacht gut schlafen“, sagte er, „weil ich weiß, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.“ Dabei war Ryan ursprünglich, wie die Mehrheit der Amerikaner, ein Verfechter der Todesstrafe. In seiner Amtszeit indes wandelte sich seine Einstellung radikal. Er sah ein, wie fehlerhaft das System ist. Professoren an der Universität Chicago hatten 159 Kapitalverbrechen analysiert und waren zu dem Ergebnis gelangt, dass der Verteidigung und der Polizei in vielen Fällen gravierende Fehler zum Nachteil der angeblichen Mörder unterlaufen waren. Ryan musste 13 Todeskandidaten freilassen.

Wenig später verhängte er ein Moratorium und setzte eine landesweite Debatte über die Fairness des amerikanischen Rechtssystems in Gang. Dem Beispiel von Illinois folgte der Gouverneur von Maryland. In anderen Bundesstaaten werden ähnliche Schritte diskutiert. In den USA wurde die Todesstrafe 1976 wieder eingeführt. In 38 der 50 Bundesstaaten wird sie praktiziert.

Ryan, der am heutigen Montag aus dem Amt scheidet, nahm kein Blatt vor den Mund: „Durch unser Rechtssystem spuken die Fehlerdämonen.“ Das beziehe sich sowohl auf die Prozesse als auch auf die Entscheidung zur Todesstrafe. Das Strafsystem sei „willkürlich und unberechenbar und deshalb unmoralisch". Ryan hat die umfassendste Begnadigung von Todeskandidaten in der US-Geschichte beschlossen. In Oklahoma wurden 1915 lediglich 22 Männer verschont, in Arkansas 1970 waren es 15, und 1986 in New Mexico entkamen fünf Insassen der Todesstrafe.

Amerikas Justizexperten sind sich einig. Ryans Schritt sei die wichtigste politische Maßnahme gegen die Todesstrafe, die je ein Gouverneur getroffen hat. Staatsanwälte und Angehörige von Opfern dagegen sind empört. Die 167 Begnadigten – die meisten Strafen wurden in lebenslange Haftstrafen ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung umgewandelt – haben zusammen mehr als 250 Menschen auf dem Gewissen. „Ryan wischt seine dreckigen Schuhe im Gesicht der Opfer ab“, tobt der Staatsanwalt von Peoria County. Die meisten Verurteilten seien geständig gewesen. Den Opfern werde Unrecht getan. „Wir werden täglich umgebracht, weil die Erinnerung uns von innen zerfrisst“, empört sich auch Dawn Pueschel, dessen Bruder und Schwägerin 1983 in ihrem Apartment ermordet wurden.

Mit solchen Reaktionen hatte Ryan, der von Beruf Apotheker ist, gerechnet. Um den Zorn zu besänftigen, beschrieb er die lebenslange Haft in drastischen Worten. „Die Zellen sind acht Quadratmeter groß, in den Sommermonaten können die Temperaturen auf über vierzig Grad steigen, es gibt keine Luftkühlung im Gefängnis. Es ist eine öde und trostlose Existenz.“ Bewirkt hat dies nur wenig. Selbst Freunde und Parteiangehörige finden, dass Ryan zu weit gegangen ist. Sein Nachfolger im Amt, Rod Blagojevich, sagte: „Es handelt sich um verurteilte Mörder, und ich glaube, das ist ein Fehler.“ Sogar die Ehefrau des Gouverneurs, Lura Lynn, sei wütend gewesen, erzählt Ryan. An seinem Entschluss änderte das nichts. „Das Leben ist des Menschen höchstes Gut“, sagte er. „Wenn es darum geht, darf es keine Irrtümer geben.“

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