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Damit ging es los: Die im Rahmen eines Tests autofreie Friedrichstraße im Herbst 2019.

© Annette Riedl/dpa

Initiative „Berlin Autofrei“: Undenkbar, solange es nicht versucht wird

Eine Initiative will per Gesetz den Autoverkehr in der Innenstadt massiv reduzieren. Warum das eine gute Idee ist. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christian Latz

Staus, verletzte Fußgänger:innen und Radfahrer:innen, ständiger Lärm und Abgase. Viele Menschen empfinden den Straßenverkehr in der Hauptstadt nicht nur deshalb als eine massive Belastung. Wenn der Blick mal wieder auf die Kolonnen von Fahrzeugen fällt, die sogar in engen Nebenstraßen parken oder in zweiter Reihe Radwege zustellen, kommt immer wieder die Frage auf: Könnte die Stadt nicht anders aussehen?

Genau das propagiert die Initiative "Berlin Autofrei". Ihr Ziel: den motorisierten Verkehr in der Stadt massiv zu reduzieren. Während in Berlin an vielen Stellen noch über einzelne Radwege und ein paar Parkplätze erbittert debattiert wird, holen die Aktivist:innen zum großen Schlag aus. Per Volksbegehren wollen sie den privaten Autoverkehr innerhalb des S-Bahnrings abgesehen von den Bundesfernstraßen grundsätzlich verbieten. Fahrten mit dem Pkw sollen nur noch in genau definierten Ausnahmefällen möglich sein.

Das klingt realitätsfern. Der Widerstand eines erheblichen Teils der Berliner Bevölkerung scheint angesichts dieser Aussichten programmiert. Tatsächlich ist es eine Vision, die sich nicht von heute auf morgen umsetzen lassen würde. Doch der Plan ist längst nicht so weltfremd, wie er im ersten Moment klingen mag.

Die Veränderung wäre in der Tat massiv

Da sind zunächst die vielen Ausnahmen, die der Gesetzentwurf definiert. Öffentliche Fahrten, seien es die Müllabfuhr, Polizei und Feuerwehr oder die Busse der BVG sind von den Regeln ohnehin ausgenommen. Gleiches gilt für den Wirtschaftsverkehr. Aber auch Privatpersonen können sich von dem Verbot auf Antrag befreien lassen, etwa weil sie in ihrer Mobilität eingeschränkt sind oder ihre Fahrtzeit beim Berufspendeln mit Bus und Bahn unverhältnismäßig steigen würde. Alle anderen Berliner:innen können ebenfalls noch ins Stadtzentrum fahren: zwölf Mal pro Person und Jahr. Ein Paar hat damit schon zwei Fahrten pro Monat frei. Allein das nimmt den Plänen einen Teil ihrer Schärfe.

Dennoch wäre die Veränderung in der Tat massiv. Es ginge nicht um wenige hundert Meter gesperrte Strecke wie in der Friedrichstraße. Wer heute fast täglich privat mit dem Auto unterwegs ist, dürfte dies künftig nicht mehr so uneingeschränkt. Es bleibt also die grundsätzliche Frage: Ist es gerechtfertigt, derart stark in die persönlichen Freiheitsrechte hunderttausender Autofahrer:innen aus Berlin und Brandenburg einzugreifen? 

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Das wiederum kommt darauf an, welcher Freiheitsbegriff zugrunde liegt. Zwar beschneidet die Idee des Volksbegehrens die Menschen in ihrer freien Wahl, mit welchen Verkehrsmitteln sie sich in Berlins Zentrum bewegen können. Zugleich schafft genau dieser Schritt aber eine Vielzahl von neuen Räumen und Freiheiten. Er entlastet Menschen an vielbefahrenen Straßen von Lärm und Abgasen. Er reduziert das Risiko für alle Verkehrsteilnehmer:innen, in einen schweren Unfall verwickelt zu werden. Und nicht zuletzt schafft er unglaublich viel Platz. 

Fläche ist eines der kostbarsten Güter

In einer immer stärker verdichteten Hauptstadt ist Fläche eines der kostbarsten Güter. Sie im Umfang wie heute Fahrzeugen zur Verfügung zu stellen, die im Schnitt 23 Stunden am Tag geparkt stehen, ist eine maßlose Verschwendung. All das sieht grundsätzlich auch Berlins Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) so. Dennoch bleiben die Maßnahmen ihrer Verwaltung oft harmlos und hinter ihren Worten zurück. Allein deshalb ist eine Initiative richtig, die genau dort den Finger in die Wunde legt und auf die Handelnden im Senat Druck ausübt, entschiedener tätig zu werden.

Ob das Volksbegehren am Ende erfolgreich sein wird, ist ungewiss. Die Stadt wird über diese Frage tief gespalten sein. Insbesondere am Stadtrand dürfte die Begeisterung für ein autoreduziertes Zentrum überschaubar bleiben. Kein Wunder: Dort sind die Wege länger, die Alternativen mit Bus, Bahn oder Fahrrad noch umständlich. Einiges wird sich in dieser Hinsicht in den kommenden Jahren verbessern müssen – zumal die aktuell vorhandenen Schienenverbindungen bei weitem nicht ausreichen, um zehntausende zusätzliche Pendler:innen aufzunehmen. 

Der Siegeszug des privaten Autos hat die Sicht auf Alternativen verstellt

Realistisch werden die Pläne also erst mit einem zeitgleichen Ausbau des Nahverkehrsangebots. Für die Debatten rund um die Verkehrswende ist die Initiative dennoch wichtig. Rund um den Globus wird damit begonnen, Innenstädte neu zu denken. Im Zentrum steht dabei immer das Wohlbefinden der Anwohner:innen. Auch in Berlin wird sich der öffentliche Straßenraum in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren stark wandeln. Zumal die Stadt mit ihrem hervorragenden Nahverkehrsangebot im Zentrum fast schon prädestiniert dafür scheint. 

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Der Widerstand dagegen erwächst nicht zuletzt daraus, dass eine Alternative zum Status quo für viele schlicht unvorstellbar scheint. Mehr als hundert Jahre Siegeszug des privaten Autos haben die Sicht auf Alternativen verstellt. Pläne für eine autoreduzierte Stadt setzen in diesem Aushandlungsprozess ein Ausrufezeichen. Sie öffnen den Blick für neue Möglichkeiten. Vieles davon bleibt nur undenkbar, solange es nicht versucht wird.

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