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Internes Papier: SPD neu erfinden!

Unter dem Titel "SPD neu erfinden" kursiert unter Sozialdemokraten aus dem engeren Zirkel derzeit ein internes Papier, das schonungslos die Schwächen der Partei offenlegt und sich mit der Zukunft der schwer angeschlagenen Sozialdemokraten befasst. Das Papier liegt dem Tagesspiegel vor. Wir dokumentieren es hier für unsere Leser.

Weit vor der Bundestagwahl am  27. September diskutierten die Genossinnen und Genossen in der SPD schon über die aus dem Wahlergebnis zu ziehenden Konsequenzen, insbesondere die personeller Art. Grundlegende Krisen offenbaren sich in Parteien zuerst auf dem Umweg über Personalfragen. Die SPD befindet sich nicht erst seit heute in einer solchen grundlegenden Krise, darüber helfen tröstliche Interpretationen eines noch als glimpflich geltenden Wahlausgangs nicht hinweg. Sie hat die mit den tagespolitischen Entscheidungen seit 2003 erfolgten Weichenstellungen bis heute nie offen diskutiert, obwohl darüber heftige Machtkämpfe stattgefunden haben. Vor diesem Hintergrund haben sich manche eine „Regeneration in der  Opposition“ gewünscht. Die SPD muss aber so oder so die Kraft finden,   ihren Platz im Fünfparteiensystem neu zu definieren.

In der Regierungsverantwortung und ohne Chance auf einen personellen Neuanfang ist das zweifellos schwieriger. Für Müntefering, Steinmeier und Steinbrück wäre schon die Rückkehr zu einem Anfangsgedanken der Agendapolitik ein großer Schritt. Am Anfang galt die Agenda noch als eine „work in progress“ mit Regeln, deren experimenteller Charakter nicht verschwiegen wurde. Bisher ist die Erinnerung daran verschüttet, weil sie eine strategische Debatte eröffnen könnte, die der „Agenda-SPD“ selbst zu riskant erscheint. Wenn auch jetzt keine Öffnung zu neuen Ufern zugelassen wird, wird die SPD weiter an einer unbewältigten Politik zu leiden haben.

Die SPD steht vor fundamentalen Weichenstellungen und dabei kann die fundamentale Verteidigung der Agendapolitik nur hinderlich sein. Nicht, weil die Agenda in Bausch und Bogen für falsch erklärt und zurückgenommen werden müsste, sondern, weil sie Vorklärungen enthält, die nie offen verhandelt worden sind und deren Eigendynamik für die Wahlniederlagen verantwortlich ist. Mit der Agenda ist man auf eine vage Politik der „Mitte“ und auf ein spannungsreiches Verhältnis zu den Gewerkschaften festgelegt. Man kann das so wollen, dann müssen sich die Mitglieder und Anhänger der SPD entsprechend orientieren und verhalten. Die offene Debatte über die strategischen Ziele ist dafür unerlässlich.

Alle politischen Beobachter stimmen unabhängig von ihrer Haltung zur SPD darin überein, dass die älteste deutsche Partei zwischen einer gefühlig-sozial auftretenden Merkel-CDU und der klaren Propagandasprache der Linkspartei aufgerieben werde. Das wird sich um so eher erfüllen, wenn die SPD als Regierungspartner sozialpolitische Folgen aus der Wirtschaftskrise, der Rekordverschuldung, der Schuldenbremse, der Alleinzuständigkeit der Länder für die Bildungspolitik etc. mit verantworten muss, die für die Klientel der SPD nicht erfreulich werden können. Die oppositionelle Linkspartei wird sich diese Chance, der SPD noch mehr Anhänger abzuwerben, nicht entgehen lassen. Für die SPD als Oppositionspartei wird diese Konkurrenz  jedoch auch kein Spaziergang. Sicher wird sie kenntlich machen, dass zur Klarheit der linken Sprüche auch die Wahrheit (oder wenigstens etwas Realismus) gehört. Den Makel, mit der verlängerten Lebensarbeitszeit, bestimmten Folgen der ALGII-Regeln und manchem anderen für eine Spaltung des Teils der Gesellschaft verantwortlich zu sein, den sie eigentlich zu vertreten hätte, würde sie aber auch dann nicht einfach los.

Bleibt die Parte in der Rolle verhaftet, die sie sich – im Wesentlichen unter Führung Münteferings – hat aufdrängen lassen, wird ihr sowohl eine offensive Haltung zu der Reformpolitik Schröder/Steinmeier als auch deren Korrektur nicht glaubwürdig gelingen. Korrekturen haben immer etwas Defensives, es sei denn man steht klar zu dem Werk, das man korrigiert. Soviel Vertrauen in die Dialektik ist aber von den Spitzenvertretern der „Regierungs-SPD“ nicht zu erwarten. Bisher jedenfalls haben sie mit ihrem wahltaktisch zeitweise verschleierten Agenda-Fundamentalismus zwei Parteivorsitzende zu Fall gebracht. Matthias Platzeck und Kurt Beck mussten aus unterschiedlichen Gründen aufgeben – der erste, weil er die „Verbürgerlichung“ zu weit zu treiben drohte, der andere, weil er der geschilderten Dialektik aus moderner Reformpolitik und gemäßigt linkem Selbstverständnis zu sehr zu entsprechen schien. Damit ist die Weggabelung benannt, an der die Sozialdemokratie steht.

Es gibt namentlich in der Brandenburger SPD und bei dem Flügel der „Netzwerker“ die Erwartung, dass es auf Dauer zwei linke Parteien geben wird. Davon abgeleitet wird die Empfehlung, die SPD solle sich auf ein aufgeklärtes Bilderbürgertum konzentrieren und traditionell linke und gewerkschaftsnahe Inhalte der vormaligen SED/PDS überlassen. Man liefert quasi die Theorie zu den Handlungen der „Regierungs-SPD“ die die SPD im veränderten Parteiensystem unkenntlich gemacht haben. Die „Regierungs-SPD“, ein Begriff aus der Umgebung Steinbrücks, der sich auch bei den rechten „Seeheimern“ großer Beliebtheit erfreut, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie dem Rest der SPD Sehnsucht nach der Opposition unterstellt und von ihm gleichzeitig Gefolgschaft verlangt.

Diese Gruppierungen haben auf Parteitagen und im Vorstand der SPD keine eigene Mehrheit. Die dementsprechend starke Parteilinke, bei der sich das Unbehagen am derzeitigen Zustand bündelt und die dem durch programmatische Arbeit zu begegnen trachtet, nutzt ihre Stärke nicht entsprechend. Sie fürchtet, als Streithansel diffamiert und allein für etwaigen Machtverlust verantwortlich gemacht zu werden und glaubt, ohne den rechten Flügel die SPD nicht reformieren zu können. Sie sollten letzteres am Beispiel Kurt Beck überprüfen. Dem ist es als rechtem Sozialdemokraten nicht gelungen, die SPD sozialer zu positionieren als es die Agenda erlaubt. Schon der Verdacht, er könne eines Tages so handeln, brachte ihn unter Druck des rechten Parteiflügels.

Die alles entscheidende Wegmarke also war und ist die „Agenda 2010“ von Kanzler Gerhard Schröder. Der hat aber nie beansprucht, dass diese Politik in Stein gemeißelt sein müsse. Unvergessen, wie er Müntefering öffentlich riet, sich nicht wie Moses im Alten Testament aufzuführen.

Ob die Agenda ein logisch zwingendes Gedankengebäude ist, dem man alles Weitere unterordnen muss, oder ob sie „nur“ eine Weichenstellung war, die Korrekturen in aller Öffentlichkeit erlaubt oder sogar erfordert, ist nicht nur eine sachpolitische Frage. Es geht vielmehr um die eminent politische Frage, was die SPD vor dem Hintergrund eigener Überzeugungen und Geschichte Arbeitnehmern und Arbeitslosen zumuten darf. Wie eminent politisch und strategisch sie ist, bedarf keiner weiteren Begründung, war die Agendapolitik doch das entscheidende Treibmittel, um aus der ostdeutschen Regionalpartei PDS die gesamtdeutsch erfolgreiche Linkspartei zu bilden.

Die SPD wird also klären müssen:  Will sie eine Volkspartei der Mitte sein und versteht sie darunter eine Art von CDU/CSU mit dem Unterscheidungsmerkmal „regieren können wir besser“?  Will sie eine Arbeitnehmerpartei sein, ihre Tradition hochhalten und einen Platz erkennbar links von der Mitte einnehmen – und was bedeutet es eigentlich, heute Arbeitnehmerpartei zu sein?  Wo ist der Platz der SPD in einem stabilen Fünf-Parteiensystem und mit welcher Politik kann man diesen Platz nicht nur behaupten sondern auch wieder groß machen?

Das Parteiensystem entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern ist zu großen Teilen Ausdruck des Zustands unserer Gesellschaft. Über diesen Zustand sind wir bestens informiert: über die wachsende Kluft zwischen arm und reich; über eine wachsende und sich verfestigende Unterschicht; über die Auflösung der sozialen Milieus, denen die Volksparteien mit ein wenig grüner und gelber Garnitur jahrzehntelang entsprochen hatten; über die – dem logisch entsprechende - wachsende Kluft zwischen Wählern und Gewählten und über die Tatsache, dass die Auflösung des typisch sozialdemokratischen Milieus am weitesten fortgeschritten ist.

Auch gut informiert ist die SPD über die politischen Haltungen, die die deutsche Gesellschaft prägen. Es gibt eine solidarische Mehrheit, die die Leistungen des Sozialstaats zu schätzen weiß und das politische Grundbedürfnis ist erstens, zweitens und drittens Sicherheit und viertens Gerechtigkeit. Eine bessere Grundlage für eine begeisterte Übereinstimmung zwischen der Mehrheit und der SPD kann man sich kaum vorstellen. Aber die Mehrheit wählt nicht SPD. Dabei bietet die „Deutschlandplan“ genannte Verdichtung des von der SPD beschlossenen Wahlprogramms eine Politik an, die diesen Grundbedürfnissen durchaus gerecht wird. Wieso also wählen die Menschen so, dass diese Politik nicht umgesetzt werden kann, sondern in großer Zahl Parteien, die eher das Gegenteil davon beabsichtigen?

Die Gründe, soweit sie bei der SPD selbst zu finden sind, ergeben sich aus den skizzierten Unklarheiten:

Erstens: die SPD vermittelt Unsicherheit. Sie ist sich ihrer Rolle und ihrer Botschaften nicht sicher und das schlägt sich nieder in einem deutlichen Mangel an Authentizität des führenden Personals;

Zweitens: die SPD ist unglaubwürdig. Die Vertretung von Arbeitnehmerinteressen, die Rolle als „Anwalt des kleinen Mannes“ nimmt man den Architekten der „Agenda 2010“ nicht ab. Hinzu kommt das Dilemma der Verlängerung der Lebensarbeitsarbeitszeit, mit der sich Müntefering identifiziert hat, obwohl er das Gegenteil versprochen hatte.

Drittens: die SPD ist ununterscheidbar geworden; Jedenfalls kann sie nicht darstellen, was sie im Vergleich mit einer CDU besser machen würde, die mit Merkel und der Großen Koalition gleichgesetzt wird;

Viertens: die SPD ist nicht transparent. Sie verschweigt und verschwiemelt sowohl die harten Konsequenzen der Agenda als auch -nach dem Abgang von Kurt Beck - dass sie tatsächlich weitere Korrekturen an den Arbeitsmarktreformen der „Agenda 2010“ vorgenommen hat;

Fünftens: die SPD wirkt unentschieden. Man will es allen recht machen und macht es so niemandem recht. Das ist insbesondere bei der Energie- und Klimapolitik – eine Domäne Steinmeiers – augenfällig.

Sechstens: die SPD ist zu langsam. Zur Zeit des Aufschwungs war die sachlich weiterhin gebotene Forderung nach gesetzlichem Mindestlohn ein Selbstläufer; in Zeiten der Krise, sinkender Löhne und drohender neuer Arbeitslosigkeit stünde die SPD  mit leeren Händen da, wenn Olaf Scholz ihr nicht das erweiterte Kurzarbeitergeld beschert hätte.

Siebtens: die SPD hat kein Gespür: dass sich der Einsatz für Opel und Karstadt nicht auszahlt, liegt daran, dass eine Mehrheit andere Gerechtigkeitsfragen höher gewichtet, als die „Gleichbehandlung“ von Banken mit anderen Großbetrieben; außerdem sehen die Menschen, dass der nun rekordverschuldete Staat  schneller an Grenzen stößt, als es den vollmundigen Ankündigungen zu entnehmen ist;

Achtens: die SPD schont das Großkapital. Die HRE war die erste deutsche „bad-bank“, als es so etwas noch gar nicht gab. Sie ist die bislang einzige Bank, an der sich der Bund beteiligt. Die oft zu recht kritisierten „Heuschrecken“ haben diese Wirtschaftskrise nicht verursacht, es waren die als seriös geltenden Banken.

Neuntens: die SPD riskiert ihr Image sowohl als Friedenspartei als auch als Anwältin der Menschenrechte. Wir können nicht langfristig in Afghanistan bleiben; „es ist an der Zeit, ein Datum (für den Abzug) zu nennen“ (Gerhard Schröder). Steinmeiers Entscheidung über Herrn Kurnaz kann man in ihrem zeitlichen Umfeld verstehen und verteidigen (nicht nur, weil 9/11 teilweise von Deutschland aus vorangetrieben wurde, sondern man male sich nur das Geschrei der Union und die Balken in „Bild“ aus, wenn anders entschieden worden wäre), rückblickend war sie falsch. Die Weigerung, sich bei dem schwer Betroffenen zu entschuldigen, kann man schwer als Engagement gegen Folter und für die absolute Priorität rechtsstaatlicher Verfahren verkaufen.

Zehntens: die SPD ist mutlos. Seit der nicht mutigen sondern brachialen Durchsetzung der „Agenda 2010“ scheint die Urerfahrung der SPD vergessen, dass nämlich die offene und beharrliche Verfolgung eines politischen Ziels auf Dauer zum Erfolg führt. Die SPD ist so kleinmütig, dass sie sich mit dem vorhandenen Rest an Kündigungsschutz zufrieden gibt, von dem jeder außerhalb des öffentlichen Dienstes abhängig Beschäftigte genau weiß, wie wenig Wert der hat; der aber stark genug ist, um kleine Betriebe daran zu hindern, ungeeignete Arbeitnehmer durch leistungsfähigere zu ersetzen. Das beschädigt nebenbei auch die Glaubwürdigkeit der Mittelstandspolitik der SPD.

Es gibt kein Thema, bei dem sich die SPD des Jahres 2009 an die Spitze einer Entwicklung zu stellen vermag, jedenfalls tut sie es nicht. Pragmatismus wird verwechselt mit der ordentlichen Bewältigung des alltäglichen Kleinklein der Regierungsarbeit. Das reicht nicht für Sozialdemokraten, weder in der Binnen- noch in der Außenwahrnehmung. Eine SPD, der das Regieren zum Selbstzweck wird, missachtet ihre Geschichte und ihre politische Kultur.

Man kann diese Beispiele zusammenfassen zu dem Befund, dass die „Strategie“ Franz Münteferings auf ganzer Linie gescheitert ist. Nach dem parteipolitischen Desaster der „Agenda“, die erst bei Müntefering den Status einer heiligen Kuh bekommen hat, sollte mit weiteren Regierungsjahren und in der Überzeugung „Wahlkampf können wir besser“, die SPD gerettet werden. Teil dieses Plans war es, die Kritik an der „Agenda“ nur lange genug durchzustehen (andere hätten gesagt: auszusitzen), dann würde das Volk schon eines Tages einlenken. Alles, was der Agenda-Logik der Arbeitsmarktreformen widersprach, versuchte er auszublenden. Entgegen der Legende ist Müntefering nicht der Erfinder des geinheitlichen gesetzlichen Mindestlohns. Als Arbeitsminister nahm er den Missbrauch der Zeitarbeit nicht wahr. Bis heute versteht er den Widerstand gegen die Rente mit 67 nicht, sondern hält ihn für eine parteipolitische Waffe aufmüpfiger Gewerkschafter und der Linkspartei.

Spitzt man diese „Strategie“ nur ein wenig zu, so stellte Müntefering der SPD damit einen Wechsel auf die Dummheit der Wählerinnen und Wähler aus. Das mögen die Menschen überhaupt nicht. Erschwerend hinzu kommt,  wer Wahlkampf besser kann,  muss es nicht nur  können, wenn der Spitzenkandidat ein Kämpfer und Alphatier, und der Gegner ein Neuling mit einem unpopulären Programm ist, sondern auch, wenn es sich vier Jahre später mehr oder minder umgekehrt verhält. Das Versprechen konnte der Wiederholungsvorsitzende gar nicht einlösen. Die darum geführten Machtkämpfe haben ihn zwar den Parteivorsitz wieder einnehmen und seine „Strategie“ weiterverfolgen lassen, voran gebracht hat das die SPD aber nicht.

Das Gegenteil ist zu beklagen: zu wenig Kontakt zu den Arbeitnehmern, Verschleierung statt Offenlegung von politischen Zielen bei innerparteilichen Machtkämpfen, Vernachlässigung grundsätzlicher und strategischer Debatten erwecken den Eindruck eines Sittenverfalls in der SPD. Der Versuch Erhard Epplers (auf sueddeutsche.de), die sinnentleerende Erfolgskontrolle durch regelmäßig veröffentlichte Umfragedaten wenigstens zum Teil für inhaltliche Leere und schrumpfende Begeisterung für die SPD verantwortlich zu machen, ist bedenkenswert aber nur die halbe Wahrheit. Ist es wirklich zwingend, darauf in der weise einzugehen, es dem befragten Volk, den festgestellten Antworten möglichst recht machen zu wollen. Die bislang intelligenteste (wenn m..E auch perfideste) Reaktion ist der Merkel-Wahlkampf, der nur noch Wohlfühlatmosphäre vermitteln soll – alle Ängstlichen dürfen sich an die mütterliche Brust kuscheln um dann in der Illusion von Sicherheit, die Übermutter auch zu wählen. Die SPD ist aber nicht allein am Kriterium zu messen, was andere tun. Zur Tradition der SPD gehört eben auch zu „sagen-was ist“ (Lasalle) und zu „sagen, was wir tun und zu tun, was wir sagen“ (Johannes Rau). Sicher, in Friedenszeiten kann man mit Blut, Schweiß und Tränen keine Wahlen gewinnen. Dass Gegenmodell, die Anmutung, es könne alles so weiter gehen, nur eventuell noch etwas besser, funktioniert aber auch nicht. Mit Recht darf man von der SPD Auskunft über angestrebte Veränderungen und Umgestaltungen erwarten und nicht nur die Verwaltung des Bestehenden.

Gegen die Abkehr vieler Menschen von der SPD werden der Partei Beruhigungspillen verabreicht: die Pille „bei Großen Koalitionen wachsen stets die kleinen Parteien und die Extreme“ (wo sind die Extreme) lenkt davon ab, dass die SPD auch ohne diese Koalition eine Zerreißprobe zu bestehen hat. Die Pille, dass die SPD eben staatstragend Verantwortung übernimmt, was sich langfristig auszahle, vernebelt, dass die daraus resultierende inhaltliche Flexibilität (vgl. auch Wahlziel „Ampel“) die SPD ununterscheidbar und beliebig erscheinen lässt. Die Pille, dass eine Regierungspartei nun einmal vor allem pragmatisch sein müsse, lenkt ab davon, dass die SPD von Überzeugungen und Gestaltungswillen zusammen gehalten wird. Alles zusammen führt zu dem Ergebnis, dass trotz durchaus vorausschauender Programmatik der Eindruck von Ununterscheidbarkeit vorherrscht und nicht leicht zu entkräften ist. Die „Regierungs-SPD“ kritisiert nach der Europawahl das Volk, das nicht zahlreich genug zu den Wahlurnen eile. Aber warum sollte es? Die Menschen empfinden, dass der austauschbare Pragmatismus der „Agenda-SPD“ (so bezeichnen sich Mitarbeiter Steinmeiers) trotz inhaltlicher Wahlplakate weiter existiert.   Es gibt den politisch bewussten Nichtwähler zweifellos und sicher gehören dazu Anhänger der SPD, die in ihrer Unzufriedenheit in die Wahlenthaltung flüchten. Die überwältigende Mehrheit der Nichtwähler aber ist inzwischen politisch desintegriert, nicht ansprechbar. Um sie mit Marx und Bebel als „Lumpenproletariat“ abtun zu können, dafür sind es allerdings zu viele. Nötig ist also eine Beschäftigung mit der Frage, ob und wie es Sozialdemokraten gelingen kann, diese Verbindung wieder herzustellen und sich glaubwürdig um diese Menschen zu kümmern. Bloß den soziologischen Begriff der Unterschicht abzulehnen ist kein Ansatz dazu. Andere Ansätze sind aber bislang nicht bekannt geworden.

Die Mehrheit der sozialdemokratisch orientierten Menschen in Deutschland wünschen sich von ihrer Partei eine verlässliche, werteorientierte Führung. Führung heißt nicht, „Bild“ lesen und dann entsprechend volatil Projekte durchpeitschen. In der Demokratie bedeutet Führung, zuhören, hinsehen, vorschlagen, erklären und dann entscheiden. Die Leistungsträger unserer Gesellschaft – das sind alle, die lernen und von ihrer Arbeit leben(wollen) und sich womöglich noch zusätzlich ehrenamtlich engagieren – wollen, dass die SPD ihre Sorgen und Bedürfnisse versteht und eine Politik macht, die die Sorgen möglichst verringert, sie aber auf keinen Fall missachtet. Sauerländische Kleinbürgersprache reicht da nicht. Das Verständnis und die Achtung vor der Arbeit müssen nicht auf Plakaten, sondern sie müssen echt sein. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit zeugt vom Gegenteil. Der Sozialversicherungslogik „Rente ab 67“ steht die Logik der permanenten Produktivitätssteigerung entgegen, die Älteren im Produktionsprozess ohnehin schon das Arbeitsleben schwer macht. Es ist an der SPD, diese gegensätzlichen Prozesse handhabbar zu machen.

Führung verlangt auch die Fähigkeit zur Vorausschau; man muss schon einen Plan haben, (sich beispielsweise am eigenen Programm orientieren), sonst läuft man Stimmungen hinterher, ohne zu unterscheiden, ob es Tagesstimmungen und bloße Meinungen oder Sorgen und stabile Haltungen sind. Die Partei muss sagen, was sie meint und nicht, was sie glaubt, dass es ihr „ideeller Gesamtwähler“ meinen könnte.

In allen sozial-kulturellen Milieus gibt es jeweils ein deutliches Potenzial an SPD-Wählerinnen und –Wählern. Es ist leider nicht möglich, eine werbende Sprache zu entwickeln, die es allen diesen Milieus recht machen könnte. Das aber versucht die SPD mit dem Ergebnis, es niemandem recht zu machen. Es fehlt der Mut zur Lücke und es fehlt der Mut, auch diejenigen, die mit der stärksten Lobby am lautesten schreien, einfach einmal zu ignorieren, wenn deren Ziele mit den eigenen nicht zu vereinbaren sind. Politische Führung muss sagen können, was Gemeinwohl und was Partikularinteresse ist und darf nicht über jedes Stöckchen springen, das ihr hingehalten wird.

Die entscheidende Veränderung der letzten 20 Jahre ist mehr als der Zusammenbruch des Kommunismus und die Globalisierung, es ist die revolutionäre Veränderung der Kommunikation. Sie ist nicht folgenlos und sie wird weitere Folgen haben. Die Aufmerksamkeit für die „Piratenpartei“ ist ein Signal. Da geht es offenbar um einen (gar nicht so) neuen Freiheitsbegriff, um den Schutz des Privaten vor staatlichem und ökonomischem Zugriff. Es deutet sich an, dass sich eine neue Abgrenzung entwickelt, was in Zukunft privat und was (Netz-)öffentlich ist. Es ist ein Unglück, dass sich die Debatte hierzulande ausgerechnet an der Absicht entzündet, Kinderpornografie im Netz zu unterbinden. Das ist zweifellos das falsche Beispiel für eine solche Freiheitsdebatte und hat Missverständnisse provoziert. Auf ihrem Weg zurück zu den Wählern muss die SPD Teil auch und gerade dieses Erneuerungsdialogs werden, dem es um eine moderne Auffassung von Freiheit geht.

Die Professionalisierung der Politik ist so weit fortgeschritten, dass auch sozialdemokratische Politiker keine eigene Erfahrung „in der Produktion“ und keine Ahnung von der Arbeit der Betriebsräte mehr haben. Das hat zuletzt eine politische Entfremdung zwischen SPD und Gewerkschaften verursacht. Eine erneuerte SPD muss Wege finden, auf dem neuesten Stand der Themen und Konflikte in den Betrieben und den Mitbestimmungsgremien zu sein und zu bleiben. Womöglich würde dann aus der Empörung über Manager-„Boni“ und Abfindungen die Frage entstehen, wie vergleichbare Sicherungen bei und gegen Arbeitsplatzverluste ganz normaler abhängig Beschäftigter geschaffen werden können.

Unsere Gesellschaft, unsere moderne Kommunikation ist absolut abhängig davon, dass es genug Strom gibt. Schon dadurch wird Energiepolitik zur zentralen Frage. Der SPD und mehr als der Hälfte der Bevölkerung sind Atomkraftwerke zu gefährlich und Kohlekraftwerke, die die SPD befürwortet, sind immer mehr Menschen zu „dreckig“. Es gibt keinen wirklichen Ausweg aus diesem Dilemma, außer, dass auf lange Sicht nur regenerative Energiequellen weltweit für die Deckung des Energiebedarfs sorgen müssen. Es wird in spätestens 100 Jahren keine anderen mehr geben. Der Bedarf steigt und die fossilen und Uranvorräte werden möglicherweise noch schneller verbraucht. Die Frist von 100 Jahren gilt übrigens nur für Kohle; Uran, Gas und Öl werden früher erschöpft sein. Kohlekraft ist also eine Übergangstechnologie. Das müsste sich in der Dimension und Nachhaltigkeit der Anlagen ausdrücken und daneben müssen alle Anstrengungen zur Umstellung deutlich erhöht werden, damit es glaubwürdig ist. Statt eines „Ja, aber Kohle brauchen wir auch“, muss es eine klare Vorreiterrolle für die Umstellung geben. Als logische Fortsetzung übrigens der rot-grünen Energiepolitik.

Die „Agenda“-Politik war nicht zuletzt ein Versuch des Umgangs mit einem sich verändernden Gerechtigkeitsbegriff. Offensichtlich aber hat diese Politik die mehrheitliche Auffassung von Gerechtigkeit nicht getroffen. Sie ist an einigen symbolhaften Punkten zu weit darüber hinaus gegangen. Die SPD braucht also eine neue Gerechtigkeitsdebatte. Die Frage ist, mit welchen Mitteln und Regeln kann die SPD das sich wandelnde Bild von Gerechtigkeit wieder genauer treffen. Was spricht eigentlich – außer Marktideologie – wirklich dagegen, dass der Staat sich an den Banken und Firmen, die er vor dem Abgrund rettet, im Gegenzug auch beteiligt – zumindest bis die Anteile mit Gewinn verkauft werden können?

Alle Parteien haben die Bedeutung der Bildung für sich entdeckt – und in den letzten Jahren die Zuständigkeit weitestgehend auf die Länderebene abgeschoben. Wo bleibt die Anstrengung, daraus Konsequenzen für eine neue bildungspolitische Strategie zu entwickeln? Wo der öffentlich erkennbare Plan, wie Bildung als Bürgerrecht und als gerechte Ausschöpfung aller Begabungen trotz öffentlicher Armut und Schuldenbremse tatsächlich die Priorität staatlichen Handelns wird?

Trotz dieses langen Sündenregisters ist es nicht der SPD allein an die Hand gegeben, ihren drohenden Untergang abzuwenden. Ob sie beispielsweise tatsächlich zwischen der Linkspartei und der „sozialdemokratisierten“ Union zerrieben wird, hängt auch davon ab, ob die Union tatsächlich sozialdemokratisiert ist. Das weiß man dort selbst noch nicht.

Es hängt auch davon ab, ob sich die Linkspartei – wie einst die Grünen – durch Austrocknung destruktiver Grüppchen und Flügel über den momentanen Erfolgsrausch hinaus stabilisieren kann oder ob sie an ihren inneren Widersprüchen noch zerbricht. Die Umstände können also auch wieder etwas günstiger werden und der SPD mehr Aufmerksamkeit verschaffen. Aber darauf darf sie sich nicht verlassen. Sie muss sich ihren Platz im Parteiensystem schon selbst zurückerobern und dazu muss sie sich in gewisser Weise neu erfinden. Der Agendapolitik mag ein Versuch zur Modernisierung gewesen sein. Der Schuss ging nach hinten los. Nun ist die Not groß. Es muss nicht alles aber vieles auf Anfang gestellt werden. Wenn Personalfragen zu diesem Zweck gestellt würden, bekämen sie Sinn. Denn fraglich ist es ja, ob das jetzige Führungspersonal dazu in der Lage ist – selbst bei bestem Willen.

Einige Beispiele, Vorschläge für das Neu-Erfinden der SPD sind gemacht. Ein denkbares weiteres Ziel wäre die Wiedervereinigung – der gespaltenen Arbeiterbewegung. Bis 2018, hundert Jahre nach Gründung der KPD, könnte es erreichbar sein.

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