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Israel: Werden Juden bald eine Minderheit sein?

Der demografische Faktor im jüdischen Land spricht für die Araber. Und die Juden haben Angst, ihren Einfluss zu verlieren. Oder wird gezielt mit falschen Zahlen hantiert?

Bescheidenheit gehört nicht zu Arnon Sofers Eigenschaften. Doch Israels bekanntester Geograf hat womöglich guten Grund, eingebildet zu sein: Seine Studien haben die Sicherheitspolitik des jüdischen Staates grundlegend verändert. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bat den Mann mit der Glatze sogar, sein Privatlehrer zu sein. Sofer soll es auch gewesen sein, der Ex-Regierungschef Ariel Scharon letztendlich dazu bewegt hat, die Siedlungen im Gazastreifen aufzugeben und den Landstrich zu räumen. „Es war spät in der Nacht im Januar 2004. Scharon rief mich zu sich ins Büro. Unter vier Augen erklärte ich ihm die Daten. Danach war er entschlossen, Gaza zu verlassen“, berichtet Sofer. Andere Quellen bestätigen diese Version der Ereignisse. Sofers Steckenpferd ist eine Wissenschaft, die Israels Politik prägt wie keine andere. „Demografie entscheidet alles“, sagt er.

„Israelis wollen drei Dinge: einen Staat, der so groß ist wie möglich, aber dabei demokratisch und jüdisch bleibt“, befand einst der Nahostkorrespondent der „New York Times“, Thomas Friedman. Doch Forscher wie Sofer behaupten, dass diese Ziele unvereinbar sind. Bis 1967 fühlte sich Israel ständig von seinen arabischen Nachbarn bedroht. Dann kam der Sechs-Tage-Krieg. Die eroberten Gebiete galten fortan als Pufferzone, als Garantie für das Überleben des Staats. Doch die Bedeutung der Herrschaft über die besetzten Gebiete hat seither einen tiefen Wandel erfahren: „Heute stellen Juden 52,5 Prozent der Bevölkerung westlich des Jordanflusses“, sagt Sofer. „In 20 Jahren werden wir eine Minderheit von 47,8 Prozent sein.

Dann wird es unmöglich, den jüdischen und demokratischen Charakter unseres Staates zu bewahren.“ Genau diese Erkenntnis lässt Israels Politiker ernsthaft darüber nachdenken, territoriale Kompromisse mit den Palästinensern anzustreben. Selbst einstige Falken wie Ehud Olmert, der gegen den Friedensvertrag mit Ägypten und die Räumung des Sinai gestimmt hatte, sind nun bereit, fast das gesamte Westjordanland aufzugeben und Jerusalem zu teilen. Aber gilt das auch für den amtierenden Premier? Mit Sicherheit, glaubt Sofer: „Nichts liegt Netanjahu ferner, als eine Annektierung palästinensischer Gebiete.“ Der Ministerpräsident habe längst eine Teilung entlang der Grenzen von 1967 akzeptiert – wenn auch mit kleinen Korrekturen und Gebietsaustauschen wegen der Siedlungsblöcke, behauptet der Geograf.

Dennoch widersetzt sich die Siedlerbewegung hartnäckig derartigen Plänen. „Ich glaube nicht, dass es notwendig ist, das Land zu teilen“, sagt Mike Wise, Gründer einer Organisation, die die Räumung weiterer Gebiete verhindern will. Angeführt vom ehemaligen Diplomaten Joram Ettinger behauptet sie, dass Sofer und die Palästinenser Israel einen gewaltigen Bären aufbinden. Ein Beispiel für den komplexen Krieg der Zahlen ist die Analyse der Geburtenrate. Ettinger und Wise meinen, der Trend begünstige Israel: „Jassir Arafat hat behauptet, die palästinensische Gebärmutter werde den Krieg gegen uns gewinnen“, sagt Wise. „Aber damit lag er falsch.“

Denn während die Geburtenrate der Palästinenser sinke, steige sie bei Juden. Es gebe keine demografische Gefahr, sondern demografischen Rückenwind. „Die Zahl arabischer Kinder, die in Israel geboren werden, ist mit rund 39000 seit Jahren konstant. Im Vergleich dazu stiegen jüdische Geburten von etwa 80 000 im Jahr 1995 auf 130 000 im Jahr 2012. Ihre Zahl nimmt also zu – und somit der jüdische Bevölkerungsanteil“, betont Wise. Halbwahrheiten seien schlimmer als Lügen, hält Sofer dem entgegen. „Jedes Jahr sterben viel weniger Araber als Juden, weil sie im Durchschnitt jünger sind. Deswegen machen Juden nur 70 Prozent des Wachstums aus, obwohl sie 80 Prozent der Bevölkerung stellen. Ihr Anteil nimmt also ab, nicht zu.“

Der Streit um die Zahlen polarisiert auch die Politik. Vielleicht unnötigerweise. Der ehemalige Knesset-Abgeordnete und einstige Siedlerführer Othniel Schneller sagt: „Letztlich ist es egal, ob Juden 50, 60 oder 70 Prozent der Bevölkerung ausmachen – das ist ohnehin fast allen Politikern zu wenig.“ Wollte man den jüdischen und demokratischen Charakter Israels bewahren und Konflikte vermeiden, sei eine überwältigende Mehrheit nötig. „Und die ist nur gesichert, wenn wir zwei Staaten haben.“

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