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POLAND-JARUZELSKI

© AFP

Jaruzelski und das Kriegsrecht: Generals Abrechnung

Ende 1981 in Polen: Solidarnosc und Aufruhr – Präsident Jaruzelski ließ beides niederschlagen. Dafür steht er heute vor Gericht. Einer seiner Fürsprecher ist der Feind von einst.

Die Uniform fehlt, sonst ist alles wie damals. Die markante Brille, die streng nach hinten gekämmten Haare, die steife, etwas nach vorne gebeugte Haltung, selbst die noch immer feste Stimme. Wojciech Jaruzelski trägt einen graublauen Anzug mit einem etwas zu großen Jackett, wenn er vor dem Warschauer Bezirksgericht auftritt. Zu seinen Füßen steht eine kleine, schwarze Aktenmappe, aus der er bisweilen beschriebene Blätter hervorzieht, um sie etwas verkrampft mit beiden Händen vor seinem Körper zu halten.

Genauso hatte es auch ausgesehen, als Jaruzelski am 13. Dezember 1981, er war damals Ministerpräsident und Generalsekretär der Kommunistischen Partei und es war ein Sonntagmorgen, im Fernsehen verkündete, dass in Polen von nun an das Kriegsrecht herrsche. Er sprach von einer außergewöhnlichen Situation, die außerordentliche Maßnahmen erfordere.

Die Lage: Die Menschen hatten wegen der wirtschaftlichen Krise immer weniger Geld, die Läden blieben immer öfter leer. Es kam zu Streiks, Arbeiter protestierten, organisierten sich in der freien Gewerkschaft Solidarnosc.

Die Maßnahmen: Oppositionelle kamen ins Gefängnis oder mussten ausreisen, die Armee schlug Streiks nieder, Solidarnosc wurde verboten, die Milizeneinheit Zomo verantwortete das erste Massaker jener Tage, als sie am 16. Dezember 1981 das Kattowitzer Bergwerk Wujek stürmte und neun streikende Bergleute tötete.

Das Blutvergießen veranlasste sogar Papst Johannes Paul II., sich an das Regime seines Heimatlandes zu wenden. In einem Schreiben forderte er dringend, der „Herr General“ möge mit Handlungen aufhören, „die das Vergießen polnischen Blutes zur Folge haben“. Doch der „Herr General“ zeigte sich unnachgiebig.

Jaruzelski, der heute 85 Jahre alt ist, hat sich inzwischen für die Exzesse jener Tage entschuldigt.Viele Male.

Doch bis heute reiben sich die Menschen in Polen an dem kantigen Mann. Das Nachrichtenmagazin „Polytika“ reiht ihn unter die zehn herausragenden Polen des 20. Jahrhunderts, doch vielen Bürgern ist er das Symbol des bösen Kommunisten, der im Gefängnis darben müsste und stattdessen eine staatliche Rente verzehrt. Er stößt ab und fasziniert, er ist eine der ambivalentesten historischen Persönlichkeiten Polens – und seit September 2008 steht er vor Gericht.

Die Anklagebehörde, in diesem Fall das Institut des Nationalen Gedenkens, stellte Mitte April 2007 ihre Klage fertig. Sie wirft Jaruzelski und neun weiteren Verantwortlichen von damals vor, in den Jahren 1981 und 1982 „kommunistische Verbrechen“ begangen und als Funktionär eine „kriminelle bewaffnete Vereinigung“ geleitet zu haben. Darauf stehen Haftstrafen bis zu zehn Jahren.

Wojciech Jaruzelski könnte sich wegen seines schlechten Gesundheitszustandes in ein Krankenbett legen und die Richter in diesem stickigen Saal des Warschauer Bezirksgerichts alleine nach der Wahrheit suchen lassen. Doch für ihn ist der Prozess eine Frage der Ehre. „Als Soldat weiß ich, dass der Befehlshaber verantwortlich für alle und alles ist“, sagte er einmal während einer seiner bisweilen mehrere Stunden dauernden Verteidigungsreden. Also steht er da und breitet, unterstützt von sehr sparsamen Gesten, seine Sicht der Geschichte aus. Das Angebot des Gerichts, sich während seiner Plädoyers zu setzen, schlägt er aus.

Im Gerichtssaal bedauerte er erneut die Folgen seiner damaligen Entscheidung, nicht aber die Entscheidung selbst, nicht die Tatsache, dass er Panzer gegen das eigene Volk auf die Straßen schickte, und auch nicht, dass er die Gewerkschaft Solidarität verbot. „Diese ungewöhnlich schwierige Entscheidung war durch eine höhere Not diktiert“, erklärt er. Damit sei das Land vor einer „viel schlimmeren nationalen Katastrophe“ bewahrt worden. Dem Einmarsch der Roten Armee.

Aber stand das je zu befürchten? Darüber streiten Historiker bis heute.

Die Solidarnosc hatte sich im Sommer 1980 unter der Führung von Lech Walesa aus einer Streikbewegung von Arbeitern der Danziger Lenin-Werft gebildet. Auslöser für die Aufstände waren Preiserhöhungen für Fleisch. Doch der Aufruhr ergriff das ganze Land, die ganze Gesellschaft, Arbeiter, Intellektuelle, die Kirche. Und es blieb nicht bei den Rufen nach billigen Nahrungsmitteln. Immer lauter wurden Forderungen nach mehr Freiheit. Mehr als ein Jahr rangen Gewerkschaft und Regime, dann griff der damalige Ministerpräsident zum äußersten Mittel. Er verbot die Solidarnosc und warf die Anführer ins Gefängnis.

Immer wieder versicherte Jaruzelski in den Jahren nach Perestroika und Wende, dass der Kreml in jenem Winter bereit war, die Unruhen niederzuschlagen. Ganz so, wie die Sowjets es in Budapest 1956 und in Prag 1968 gehalten hatten. Jaruzelski wusste, was das bedeuten würde. Während des Aufstandes in der Tschechoslowakei war er polnischer Verteidigungsminister. Da schickte er seine Truppen auf Geheiß Moskaus nach Prag, um die Demonstrationen aufzulösen.

Auch dafür hat er sich inzwischen entschuldigt. Heute wisse er, dass er damals von den Machthabern im Kreml getäuscht worden sei. Die Demonstranten hätten keine Waffen besessen, wie von Moskau behauptet.

Doch wären russische Panzer auch nach Polen gerollt, um die Einheit des Ostblocks zu sichern? Immer wieder veröffentlichen Wissenschaftler, Politiker und selbsternannte Experten Studien oder historische Dokumente, die die eine oder die andere Sichtweise unterstützen. 1995 kamen einige Dokumente der SED ans Tageslicht, die darauf hinwiesen, dass die Truppen des Warschauer Pakts damals an der Grenze zu Polen standen – bereit zum Einmarsch. Dem gegenüber stehen Aussagen wie die von Anatolij Gribkow, dem ehemaligen Generalstabchef der Vereinten Streitkräfte der Warschauer-Pakt-Staaten. Er behauptet, dass Moskau nicht zu einer Intervention bereit gewesen sei.

Mehr Einblick in die Lage Anfang der 80er Jahre erhofft man sich nun von einem 1100 Seiten starken Bericht des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA, der in diesen Tagen auftauchte. Darin schreibt der inzwischen verstorbene polnische Agent Oberst Ryszard Kuklinski: „Die Mehrheit des jüngeren Offizierskaders und Soldaten der polnischen Armee unterstützen den Geist der Gewerkschaft Solidarnosc, bei den höheren Offizierskadern dagegen ist die Meinung geteilt.“ Jaruzelski will den Bericht durcharbeiten und sich im Prozess dazu äußern.

Die Wahrheit, so scheint es, ist auch in diesem Fall grau und nicht schwarz oder weiß. Doch das will der Kläger, das Institut des Nationalen Gedenkens, nicht hinnehmen. Das IPN ist die letzte Bastion der nationalkonservativen Kreise um Jaroslaw und Lech Kaczynski. Sie glauben, dass Polen 1989 bei den Gesprächen am Runden Tisch, als der friedliche Übergang des Landes in die Demokratie geregelt wurde, von den Führern der Solidarnosc verraten worden sei. Walesa werfen sie vor, ein kommunistischer Spitzel gewesen zu sein und mit Jaruzelski paktiert zu haben. Nach Überzeugung der nationalkonservativen Rechten hat damals jene missratene „Dritte Republik“ begonnen, die aus ihrer Sicht bis heute nichts anderes ist als die Fortherrschaft der gewendeten kommunistischen Eliten.

Es ist diese noch immer nicht bewältigte Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, die auch im Prozess gegen Jaruzelski mitschwingt. Aus diesem Grund glauben viele Polen, dass es sich um ein politisches Verfahren handelt. Und aus diesem Grund erhält der General Hilfe von unerwarteter Seite. Lech Walesa, der Gegenspieler Jaruzelskis, hält den Prozess für einen Fehler, weil es den Klägern darum gehe, Rache zu üben. Rache nicht nur an dem Mann, der das Kriegsrecht ausgerufen hat, Rache auch an all jenen, die am Runden Tisch saßen.

Dass Jaruzelski bedingungsloser polnischer Patriot wurde, liegt an den Erlebnissen seiner jungen Jahre. 1923 geboren als Kind einer wohlhabenden, adligen Familie, besuchte er ein katholisches Internat. Die Flucht vor den einmarschierenden Deutschen brachte die Familie nach Litauen, von wo die einrückende Sowjetarmee sie nach Sibirien deportierte.

Dass er dort als Zwangsarbeiter mächtige Bäume fällen musste, sei ein bisschen auch ein Glück gewesen, weil Schwerstarbeiter im Lager am besten ernährt wurden. Geblieben ist ihm aus der Zeit ein Augenleiden. Tags das gleißende Licht Sibiriens, und abends las er im dämmrigen Schein einer selbst gebastelten Petroleumlampe russische Klassiker, Tolstoi, Tschechow. So erklärte er einmal seine dunkle Brille.

Dann schloss sich der junge Jaruzelski einer in der Sowjetunion gegründeten polnischen Division zum Kampf gegen die Deutschen an. Mit seiner Aufklärungseinheit kam er bis nach Berlin und betrat als einer der Ersten das befreite KZ Sachsenhausen. Damals schrieb er einen Brief an seine Mutter ins ferne Sibirien, darin ein Satz, den er als jene „Philosophie“ beschreibt, an der er sein ganzes restliches Leben ausrichtete: Man müsse dem jeweils existierenden Polen dienen, wie auch immer das aussehe und was für Opfer auch immer es verlange.

Nach dem Krieg begann seine steile Karriere im kommunistischen System. 1947 Parteieintritt. 1956 Ernennung zum General, da ist er erst 33 Jahre alt. 1968 Verteidigungsminister, 1981 Ministerpräsident und Generalsekretär der Partei, 1989 Staatspräsident. Und nun, im Jahr 2008, sitzt er also auf der Anklagebank.

Die Staatsanwaltschaft wirft Jaruzelski vor, mit der Verhängung des Kriegszustandes gegen die damalige polnische Verfassung verstoßen zu haben. Außerdem habe er mit dem Militärrat, der die Regierungsgeschäfte übernahm, eine „verbrecherische und bewaffnete Vereinigung“ gegründet. Der letzte Punkt bringt Jaruzelski in Rage. Er habe sein Land vor einer gewaltigen Katastrophe gerettet und werde nun angeklagt wie ein Bankräuber oder ein Mitglied der Mafia. Angesichts dieses „absurden“, ehrabschneidenden Vorwurfs zieht er seine Konsequenzen. Wojciech Jaruzelski ignoriert den Staatsanwalt beharrlich und antwortet nicht mehr auf dessen Fragen.

Stattdessen fordert er vom Gericht, dass die damals führenden Politiker der Welt wie Michail Gorbatschow, Margaret Thatcher oder Helmut Schmidt im Zeugenstand erscheinen müssten, um seine Version der Geschichte zu stützen. In solchen Momenten wird deutlich, in welchen Dimensionen dieser Mann denkt. In schwindelnden Höhen scheint er zu leben, abgeschieden von der neuen realen Welt, in einem Kokon eigener Ideen und Begründungen. Würden alle Fakten zusammengetragen, fährt er fort, werde die Welt erkennen, dass die Millionen Solidarnosc-Anhänger nicht nur friedliebend gewesen seien. „Durch das Kriegsrecht wurde die aggressive Macht der Solidarnosc gestoppt“, doziert Jaruzelski, und dieser Logik zufolge habe das Kriegsrecht auch dazu beigetragen, dass nach einigen Jahren, in einer veränderten internationalen Situation, der Aufbau demokratischer Strukturen in Polen ermöglicht wurde.

Das Kriegsrecht als Beitrag zum demokratischen Wandel in Polen – diese Argumentation wird bis zu einem gewissen Grad auch von prominenten ehemaligen Regimegegnern vertreten, darunter Lech Walesa und der Filmemacher Kazimierz Kutz, der während der 80er Jahre selbst im Gefängnis saß. Kutz gibt zu bedenken, dass es ohne das Kriegsrecht vielleicht zu mehr Opfern gekommen wäre. „Wenn Solidarnosc den Kampf begonnen hätte, hätte die Armee zu den Waffen gegriffen und es wäre zu Massakern gekommen. Jaruzelski hat einen Bürgerkrieg verhindert.“

All diese Fürsprecher erkennen, dass Jaruzelski eine zwiespältige Figur ist. Für die Veteranen aber ist der General ein Held. Fast ehrfürchtig treten sie nach seinen öffentlichen Auftritten an ihn heran, halten rote Rosen in der Hand und machen ihm Mut für die Zukunft. Im Kreise solcher Kameraden wirkt Jaruzelski wie jener Mann, der nach eigenem Bekunden sein „ganzes Leben lang für Polen gekämpft“ hat. Lächelnd und mit einem kurzen Nicken nimmt er die kleinen Huldigungen zur Kenntnis. Dann geht er langsam, sehr langsam und sehr aufrecht durch den Zuschauerraum.

Doch während der immer pflichtbewusste Jaruzelski die Bühne des Gerichts verlässt, verwandelt er sich. Der ferne General aus dem Fernsehen des Jahres 1981 wird zum Greis. Das streng nach hinten gekämmte Haar wirkt schütter, Altersflecken werden sichtbar. Wenn er schließlich nur eine Armlänge entfernt vorbeischlurft, erscheint der schwer herzkranke Wojciech Jaruzelski plötzlich unbeschreibbar müde. Und dennoch: „Wenn ich jetzt aufgebe“, hat er einmal gesagt, „dann wäre das eine Art Desertation, und ich möchte nicht desertieren, nicht kapitulieren“. Der General wird diesen Kampf bis zum Ende führen.

Knut Krohn[Warschau]

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