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Die Karteikarte von Marianne Embden-Hamel gehört zum Bestand der Arolsen Archives.

© Arolsen Archives

Mehr als 17 Millionen Namen: Ein digitales Denkmal für die Nazi-Opfer, das nicht vergilben wird

Millionen Dokumente von NS-Opfern lagern in den Arolsen Archives in Hessen. Jetzt werden die Akten weltweit zugänglich gemacht. Jeder kann dabei helfen.

Es kann sein, dass er heute noch lebt. Abram Kaler wurde am 10. Februar des Jahres 1927 geboren. Er war 17 Jahre alt, als er am 1. August 1944 als Häftling im Konzentrationslager Dachau registriert wurde. Der Tischlergehilfe hat nur wenige Einträge auf seiner Karteikarte. „jüd. Lit.“ steht dort noch. Ein Jude aus Litauen? Am 7. Januar 1945 wurde Abram Kaler jedenfalls ins KZ Flossenbürg überstellt, da war er noch nicht 18. Diese Zahlen und Wörter sind alles, was die Karteikarte von Abram Kaler über ihn preisgibt. Es sind dürre, bürokratische Informationen, die mehr Fragen aufwerfen als beantworten. War er allein? Hatte er Angst? Hatte er schon geliebt? Nützte ihm sein Beruf im Lager? War er groß, klein, mutig? Wo war seine Familie? Was ist aus ihm geworden?

17,5 Millionen Namen sind in den Arolsen Archives verzeichnet. Es ist die weltweit umfassendste Sammlung zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Die Archives, die ihren Namen von der hessischen Kleinstadt Bad Arolsen ableiten, in der sie ihren Sitz haben, gehören zum Unesco-Weltdokumentenerbe und setzen jetzt eine ebenso spektakuläre wie naheliegende Idee um: Jeder Mensch kann dabei helfen, das riesige Archiv zu digitalisieren.

So wird nicht nur Angehörigen in aller Welt ermöglicht, mehr über Familienmitglieder zu erfahren. Es ist auch ein digitales Denkmal, das den Millionen Opfern des Nationalsozialismus gesetzt wird. Mit Hilfe der Community – der weltweiten Netzgemeinde und damit allen, die über einen Internetanschluss verfügen – werden die einzelnen Häftlingsakten aus den Lagern der Nazis eingegeben, überprüft und schließlich online gestellt. Der Name der Seite im Internet: #jederNamezählt.

Ursprünglich war das Projekt für Schüler gedacht

„Die Idee, unser Archiv mit Hilfe der Community zu digitalisieren, entstand schon im vergangenen Jahr“, erzählt Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives. Ursprünglich sei das Projekt für Schüler gedacht gewesen: „Wir waren auf der Suche nach Methoden, um Schüler für das Thema zu interessieren.“ Das ist umso wichtiger, weil die Zeitzeugen mittlerweile hochbetagt oder gestorben sind.

„26 Schulen in Hessen haben bei einem Pilotprojekt am 27. Januar diesen Jahres mitgemacht, dem 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz“, sagt Azoulay. Etwa tausend Schüler hätten die Dokumente an diesem Tag bearbeitet – und waren begeistert darüber, etwas konkretes tun zu können, etwas, das Folgen hat. Lehrer berichteten, dass einige Schüler gar nicht nach Hause gehen wollten.

Als wegen der Pandemie alle Feierlichkeiten zu den Jahrestagen der Befreiung der Konzentrationslager abgesagt worden seien, so Azoulay, „haben wir uns entschieden, die Möglichkeit, die Akten zu digitalisieren, jedem anzubieten“ . Die Reaktionen in der Community seien sehr positiv und begeistert gewesen, „das hatten wir so nicht erwartet“. Der Direktorin ist anzuhören, wie sie sich darüber freut.

Es gibt schon mehr als 2500 Freiwillige

Anne Matthies aus Berlin gehört zu den mehr als 2500 Freiwilligen, die sich bei #jederNamezählt momentan damit beschäftigen, Datensätze zu übertragen. Sie habe sich schon länger für die sogenannte Stunde Null interessiert, sagt die 47-Jährige. Um den diesjährigen 8. Mai herum – den 75. Jahrestag der Befreiung – habe sie sich zum Thema Displaced Persons durchs Internet „gewühlt“ und landete recht schnell bei den Arolsen Archives.

„Namen für Namen in Originaldokumenten zu entziffern ist eine ganz besondere Art des Gedenkens. Konzentriert, traurig und gleichzeitig auch für andere sinnvoll. Ich bin froh, dass ich etwas ganz Konkretes gegen das Vergessen beitragen kann“, nennt Anne Matthies ihre Gründe für die akribische Arbeit am Computer.

73 Prozent der Anfragen kommen von Angehörigen

Mehr als 400.000 Menschen haben im vergangenen Jahr im Arolsen-Online-Archiv nach Namen gesucht. Das geht aus dem gerade veröffentlichten Jahresbericht hervor. Die Zahl der Anfragen steigt stetig, mehr als 73 Prozent kommen von Familienangehörigen der ehemaligen Häftlinge. Eine Zahl, die besonders berührt, weil sie deutlich macht, wie wichtig die dürren Fakten der Karteikarten für eine Familie sein können. 137 Familien konnten sogar persönliche Gegenstände von Angehörigen entgegennehmen. Und natürlich sind diese Akten, die mal flüchtig und mal in Schönschrift ausgestellt wurden, immer gehorsam, Dokumente, die jeden Leugner Lügen strafen und die das Schicksal der Millionen NS-Opfer in die Welt tragen.

Wer sich dafür entscheidet, bei der Digitalisierung der Namen mitzuarbeiten, wird unkompliziert an die Hand genommen. Auf Deutsch oder Englisch werden die Aufgaben erklärt und Hilfen angeboten. Pragmatisch heißt es zum Beispiel: „Indizierung ist zeitaufwändig. Wenn Sie nur einige Minuten zur Verfügung haben, wählen Sie bitte das Arbeitspaket ,Dachau’.“ Die Bearbeitung einer Seite aus Buchenwald dauere etwa 30 Minuten, Sachsenhausen sei am anspruchsvollsten.

Die Daten werden drei Mal abgeglichen

"Das Projekt ist eine Wende in unserer Arbeit“, sagt Archives-Direktorin Azoulay. Dass nicht nur Archivare und Historiker, sondern alle die Dokumente erfassen „dürfen“, ist ein Novum. Zur Sicherheit werden am Ende nur Informationen online gestellt, die zuvor drei Mal identisch erfasst wurden.

„Zunächst dachten wir, es sollten nur einfache Daten eingegeben werden, wie Häftlingsnummer, Vorname, Nachname und Geburtsdatum.“ Nun habe sich herausgestellt, dass die Freiwilligen gerne mehr Informationen einstellen wollen, um mehr Details der Schicksale zu dokumentieren. Anne Matthies beschäftigt sich vor allem mit den Dokumenten aus Sachsenhausen: „Ich kann Sütterlin lesen, bei manchen Handschriften ist das sehr nützlich“, erklärt sie. Sie wundere sich, dass nicht mehr Freiwillige mitmachen „bei so einem tollen Projekt“. Zu wissen, dass sich andere gerade ebenfalls durch diese „entsetzlichen Listen“ arbeiten, sei für sie „Ansporn und Trost“. Mit einem Klick verändert sich die Welt. Eine neue Karteikarte ist zu sehen, ein weiteres Leben scheint auf. Manchmal gibt es auch einen Moment der Erleichterung. „Ich nehme mir Zeit und suche viele Namen im schon vorhandenen Online-Archiv. Wenn ich dort etwas finde, ist es meist eine 1948 getippte Sterbeurkunde vom Standesamt Oranienburg. Nur für Piotr Dutkiewicz, geboren am 28.5.1921, habe ich eine Displaced-Person-Card gefunden. Er hat überlebt! Ich habe gejubelt“, sagt Matthies.

"Die Archive gehören uns nicht. Die Namen müssen in die Welt!"

Vor 75 Jahren befreiten die Alliierten die Konzentrationslager. Die Corona-Pandemie verhinderte, dass Menschen zum Gedenken an die Opfer zusammenkamen. Auch um diese Lücke zu schließen, ist das Projekt #jederNamezählt angetreten.

„Es kann doch nicht sein, dass nach 75 Jahren immer noch so viele Namen nicht digital erfasst sind“, sagt Direktorin Azoulay. „Die Archive gehören uns nicht, die Namen müssen raus in die Welt!“ Bis zum Jahr 2025 sollen alle Namen, die in den Arolsen Archives zu finden sind, erschlossen sein – vom Papier ins Internet. Es geht um 17,5 Millionen Menschen. Abram Kaler ist einer von ihnen. Der Tischlergehilfe wurde am 10. Februar des Jahres 1927 geboren. Und wäre heute 93 Jahre alt.

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