zum Hauptinhalt
Joschka

© Sven Simon

Joschka Fischer: Die Besteigung eines Throns

Leidenschaft und Selbsttäuschung, Unrast und Stillstand: Das ist Joschka Fischers Geschichte - beschrieben von einem Wegbegleiter.

Freunde waren wir nie. Aber als er auf der Bildfläche erscheint, ist er der, auf den wir lange gewartet hatten. Joschka Fischer ist fünfunddreißig Jahre. Er ist ein toller Hecht, er ist eine Lusche. Er ist cool, er ist uncool. Er ist radikal, er ist spießig. Er ist mutig, er ist feige. Er ist treu, er ist treulos. Er ist gerissen, er ist einfältig. Er ist zum Knuddeln, er ist zum Davonlaufen. Er kräht wie der stärkste Hahn auf dem Hof. Er hatte uns grade noch gefehlt. Er war unser Mann.

Entgegen anderslautenden Berichten musste man Fischer in Frankfurt nicht unbedingt kennen, mochte er auch als bekannt voraussetzen, dass man ihn kannte. Am Main ist Joschka immer nur ein Gerücht gewesen. Ein selbsternannter Sponti, was immer das sein sollte, eine sehr lokale Berühmtheit, aber auch nicht zu sehr. Anfang der Achtziger war seine Zeit eigentlich schon vorbei. Auslaufmodell! Eine neue Generation von Hausbesetzern und Freaks wollte mit Antiimperialisten und Barrikadenkämpfern seines Schlags lieber nichts zu tun haben. Erstaunlich oft redeten sie in ihren Zirkeln „vom Fischer, mit Verlaub, als Arschloch“. Trotzdem kam ich an ihm nicht vorbei. Als Jungredakteur quälte ich mich durch seine Revolutionsphantasien und Weltdeutungen in entlegenen Gazetten, bei einem Zausel an der Bockenheimer Warte aus Mitleid gekauft.

Der Apostel des Zukünftigen wuselte mit Alarmgesicht herum. Die Fluppe tief im Mundwinkel, geisterte er durch die „Szene“. Unmöglich, dieses Lächeln zu verfeinern. Es blieb das Lächeln eines Boxers. Bantamgewichtler, würde ich sagen. Niemand, er selbst am allerwenigsten, konnte ahnen, dass ein Protagonist der Sponti-Misserfolgskultur aus den wüstesten Straßenschlachten als leitender Angestellter des Staates hervorgehen würde. Mit dem Tempo eines Videoclips drängte er ins Pantheon der Unsterblichkeit.

Es ist der März 1983. Plötzlich ist Fischer in den Deutschen Bundestag gewählt. Das musste man sehen. Ich fahre hin. Die Grünen gelten als seltsame Spezies auf noch unerforschtem Gebiet. Journalisten nähern sich ihnen wie einem frisch entdeckten Stamm, den Rauschebärte und Gesundheitsschlappen kennzeichnen. Joschka steht in Bonn mit einem Häuflein sichtlich kregler Frauen und Männer am Rhein. Kameras klicken. Hatten sie sich verlaufen oder ich mich?

Der Auftrieb war schwerlich zu überbieten: Der erstmalige Einzug der Grünen ins Parlament. Feministinnen, Dritte-Welt- Spezialisten, Ostermarschierer, Öko-Sozialisten, Anthroposophen, Graue Panther, K-Veteranen, Sektierer, Realos, Fundis. Mit den Etiketten war wenig anzufangen, die Archetypen der alternativen Gründergeneration mit ihren Fünf-vor-zwölf-Gesichtern hatten sich versammelt.

Auf den ersten Blick dachte ich an einen Ausflug der Lehrergewerkschaft, mit Jute-statt-Plastik-Beutel, verblühter flower power, einem Sortiment Gute-Gesinnung-Buttons. „Schwerter zu Pflugscharen“ ist der Renner. Die Mädels für die Klassenfahrt frisch geföhnt, von einem unsichtbaren Regisseur in schlabbrigen Wohlfühllook gesteckt. Petra Kelly, die grüne Schmerzensfrau mit ihren fragenden Augen, Gerberastrauß im Arm, schwor ewige Treue: „Wir werden die Bewegung niemals verraten!“ Tapfer gestattet Bundestagspräsident Rainer Barzel, CDU, für die Premiere „Toleranz“ beim Outfit. Er bittet allerdings, „keine Tiere“ ins Hohe Haus mitzubringen.

Das größte Interesse gilt dem zentral stehenden Herrn. Der einzige Krawattenträger. Ist er der Rektor? Es gelingt Otto Schily nicht, die Freundinnen und Freunde fürs Erinnerungsfoto in Reih und Glied zu arrangieren. Sie scheren sich keine Sekunde ums Protokollarische. Der Albtraum jedes Lichtbildners: Einer kehrt ihm den Rücken zu. Links von Schily baut sich Parkaträger Eckhard Stratmann mit Umhängetasche auf, bei Studienräten große Mode. Er ist Studienrat. Im Plenum sollte er sich mit den Worten einführen: „Liebe Bürgerinnen und Bürger im Lande, ich bin der Abgeordnete Eckhard Stratmann aus Bochum.“ Rechts sucht der ranke, schlanke Joschka die Nähe Schilys. Das Kinn gereckt, guckt er dem prominenten Strafverteidiger über die Schulter beim Versuch, Kontakt zu den Reportern herzustellen. Joschka hatte verbesserungsfähige Manieren, war aber äußerst fotogen. Politik ist ein Kampf um Bilder. Fischer gewinnt den Kampf.

Dies ist der Moment: Die Eroberung der Zitadelle. Alternative kennen das Bundeshaus bisher überhaupt nur als Bannmeile ihrer Protestmärsche. Bis an die Zähne mit Transparenten bewaffnete Grün-Wähler skandierten: „Nie wieder Krieg!“ Über dem Treiben der achtundzwanzig Alternativen und ihrer Sympathisanten schwebt unsichtbar, aber riesengroß, ein Transparent mit der Parole „Avanti dilettanti“.

Im Tross Gleichgesinnter symbolisiert ein Globus den Auftrag zur Rettung von Mutter Erde, mickrige Nadelbäume das Waldsterben. Die Transportkosten übernimmt die Fraktion „zur Hälfte“. Bei aller Buntheit eine „Latschdemo“, die dem geübten Frankfurter Krawallbruder Joschka sonst von Herzen widerstrebte.

Er war die andere Preisklasse. Lässig, sportiv, tough. Kraftvoll wäre ein schwaches Wort. In zerklüfteter Laufbahn ist er bereits Fotolehrling, Taxifahrer, Antiquar, Putzmacher, Müßiggänger, Band- und Hilfssachbearbeiter gewesen. Er wollte viel, probierte einiges, ausgenommen Erfolgversprechendes. Joschka konnte quasseln, schien aber keine besondere Begabung zu haben. Seine wenig vertrauenerweckende Prosa strotzte vor Wichtigtuerei. Er redete und redete, als hätte er nie etwas anderes gelernt. Hatte er auch kaum.

Davon abgesehen, dass er das rote Banner hochhielt, gebrach es ihm sichtlich an einer zündenden Idee für einen Brotberuf. Ehrgeiz war nicht zu erkennen, schon gar kein brennender. Fischer war von daheim ausgebüxt, brach Schule und Lehre ab, was man wohl für ausgesprochene Fluchtreflexe halten muss, hatte eigentlich keinen Schimmer, was er treiben wollte, außer Nein zu sagen. Gleichwohl dachte Joschka nicht in kleinen Begriffen von sich, denn er war ein Agent des richtigen Bewusstseins. Die Alternative Politik kam grade recht.

Für das Geschichtsbuch posiert der Seiteneinsteiger in der zweiten Reihe, fortan der „Abg. Fischer (Frankfurt)“. Er trägt die theatralische, für den frischen Tag zu leichte Kostümierung seines Ungenügens, die man nach wenig glorreichen Jahren geradezu von ihm erwartete. Der Kragen des braunen Cordjacketts ist hochgestellt, darunter Pullover und Jeanshemd. Die üppige Matte mit „Nackenspoiler“ reicht bis zum Genick. Löckchen ringeln sich am Ohr, ein klarer Fall für den im Amtsblatt der Linken – dem Frankfurter Stadtmagazin „Pflasterstrand“ –, fleißig seine Dienste offerierenden „linksradikalen Friseur Harald“. Lebt er eigentlich noch? Wie er so dastand, hätte ich Joschka für einen Halbstarken gehalten. Nun vermeldeten die Medien, der „Buchhändler Josef Fischer“ sei zum parlamentarischen Geschäftsführer gewählt worden. Die news kostete mich ein solidarisches Zwinkern. Denn Buchhändler war weit untertrieben für jemand, der im Marx-Kollektiv „gedruckte Waffen“, also Bücher, verscherbelt hatte.

Bonn war ein böhmisches Dorf, nennt sich „grünste Hauptstadt Europas“, meint das aber nicht politisch. Von Bonn weiß Fischer nichts. Bonn weiß von Fischer nichts. Man geht nicht fehl in der Annahme, dass die Feindlichkeit der Umgebung sein Erwachsenwerden markiert. Keine zwei Jahre zuvor hatte er tastend die Fühler nach dem Neuen ausgestreckt. Die Reste seiner Gruppe „Revolutionärer Kampf“ legten in der Marx-Buchhandlung die Marschroute fest, um „die Grünen zu usurpieren“. Ein Mitstreiter berichtet, eigentlich sei ihnen die Bewegung „zu weinerlich und naturbeseelt vorgekommen, aber in diese Richtung wendeten sich jetzt die Massen. If you can’t beat’em, join’em! Und so war es dann ja auch.“ Mehr und mehr Spontis sickern bei den Alternativen ein. Handstreichartig besetzt der bis dahin wortgewaltige Verächter des „Systems“ mit Witterung fürs Opportune und Symptomatische ein Jahr später den umkämpften Listenplatz drei in Hessen.

Joschka eiert bei der ideologischen Rechtfertigung ziemlich herum: „Die Perspektivlosigkeit, das Rumhängen, das Nicht-wissen-was-tun wird immer unerträglicher. Die Luft im Getto ist zum Ersticken, und die Wirklichkeit hat sich durch unseren Rückzug auf uns selbst auch nicht verändert.“ Was er dann mit einem „existentiellen Bedürfnis“ umschrieb, verschleierte ihre Bedeutungslosigkeit und lautete im Klartext: Die Linke ist sowieso am Ende und die Szene notorisch knapp bei Kasse. Ein Impuls zum kometenhaften Aufstieg.

Nie mehr waren wir so jung wie bei ihrer Ankunft am Regierungssitz. 5,6 Prozent Wählerstimmen für die „Anti-Parteien-Partei“, ein in Dezibeln messbarer Paukenschlag. Alle waren herrlich aufgeregt. Alles hatte eine Bedeutung. Alle meinten, jetzt geht die Post ab. Ungezähmt wie ein Wurf Welpen tollten sie vor dem Bundestag herum. Diese paar Hanseln schafften mit ihrem Trara eine seltsame Illusion von Optimismus. Wir sahen in ihnen etwas, keiner hätte genau sagen können, was. Vielleicht hatte die Graswurzelrevolution begonnen. Vielleicht waren sie bessere Volksvertreter. Vielleicht würden sie ihre Ankündigungen erfüllen. Morgen, spätestens übermorgen wollten wir mit intensivem Grün überschüttet werden.

Ich erzähl mal was von Träumen. Vom Frühling der Erwartung. Den Märzphantasien. Der heiteren Unberührtheit des Auftakts, dem beschwingten Aufbruch, erfüllt von Zukunft, guten Gedanken, heiligen und profanen. Dem süßen Irrglauben, die Umstände hätten sich für uns gefügt. Dem unwiderstehlichen Drang, sich in Spinnereien zu verlieren. Dem Gefühl, dass es ein gutes Ende nimmt. Der erregenden Unruhe.

Nie wieder verdichtete sich die Grünen-Geschichte so übermächtig in einem Augenblick. Die Gaudi verdeckte die latente Verunsicherung durch Bonn, wo die politische Versuchung lauerte. Ungeheuer verlockend, jetzt würde der Bundestag „instandbesetzt“, endlich würde es um Argumente gehen, nicht nur um Besitzstände, Machterhalt und Ideologie des vertrauten Panoptikums. Die Minute vor dem Anpfiff war die schönste, reinste, stillste, unbefleckteste, übergeschnappteste, unbändigste. So sehen die Tage aus, die eine Republik verändern! – Sehen so die Tage aus, die eine Republik verändern?

Die Euphorie war nur kurz. Bald rangeln die taufrischen Alternativen todernst um Posten und Pöstchen. Ausgerechnet ihr Radikalster erweist sich als besonders geschmeidig im Hin und Her seiner Anschauungen und bringt es zum Held der Bewusstseinsindustrie. Erst im Laufe der Jahre stellt sich heraus, dass auf die Grünen ebenso wenig Verlass ist wie auf die alten Wortbruch-Politiker. Beim Parlamentseinzug ist ein heiteres Bild auf die reinweiße Fassade des Abgeordnetensilos an der Görresstraße projiziert. Es war ein Bild, sonst nichts.

Zwei Jahrzehnte gehen ins Land. Die Revers werden schmaler, breiter, länger, kürzer, wieder schmaler. Schröder und Fischer sind abgewählt. Ihr Stück endet schleppend, Rot-Grün hat das Verfallsdatum überschritten, sinkt dem Ende entgegen. Leise schleicht der siebenundfünfzig Jahre alte Fischer vom Hof. Verbraucht, zerknittert, übermüde und überwach zugleich. Um einen Doktorhut aus Haifa und eine Grunewald-Villa reicher, nach sieben mausgrauen Jahren Rot-Grün hundert Jahre Einsamkeit im Blick. Sinnbild seiner eigenen Verwandlung, trollt sich der frühere streetfighter mit jenem steifen, zeremoniellen, für mich lächerlichen Ernst von der Bühne. Den hatte er – unbeeindruckt von Namen und Titeln – früher am Establishment belächelt, verachtet und gegeißelt.

Wie hatte Fischer es einst überhaupt geschafft, unsere Ideale und Wünsche mit seiner Person zu synchronisieren? Wegen seiner Unerschrockenheit, wegen seines unwiderstehlichen Sounds, von mir aus wegen seiner kessen Lippe hatten wir ihn für standhaft gehalten. Wir hatten geglaubt, unsere Zukunftsängste seien gut aufgehoben. Längst fragte ich mich: War die Hingabe an eine Idee falsch gewesen oder ihre Projektion auf Fischer?

Ich weiß nicht warum, früh schon legte ich eine Kladde „Fischer, Joschka“ an, hortete in Klarsichthüllen, was abseitig erschien, ohne zu überblicken, dass die kleinsten Einzelheiten seines Aufbruchs werweißwohin irgendwann irgendwen interessieren. Mit der Buchführung fuhr ich fort, als es schon eine Weile her war, dass wir den gleichen Ton pflegten. Kaum war er zum Außenminister erkoren, verwandelte sich unsere frühere Gemeinsamkeit in eine vertrauliche Traurigkeit, die aus einer beträchtlichen gemeinsamen Wegstrecke – er als Politiker, ich als Journalist – resultierte.

Viele Jahre war ich berichterstattend gewissermaßen durch fette und magere Zeiten mit ihm gegangen, nahm amüsiert oder erbost Anteil, näher, ferner, je nachdem. In unseren besseren Phasen teilte ich Erfolge und Scheitern mit ihm. Wurde es eng, bangte ich mit oder warf mich schreibend für ihn in die Bresche. Nun konnte ich das Herumeiern nicht mehr ab, es reichte mir, ihn im Reichstag Hof halten zu sehen. Distanz hatte sich in unser Verhältnis geschlichen. Sah ich ihn, begegnete mir ein Unbekannter. Zu Joschkas Kreis hielt ich Kontakt, keiner wagte ihm auszurichten, warum ich ihn dick hatte.

Fischers Geschichte ist eine Geschichte der Leidenschaft und der Selbsttäuschung. Es ist eine Geschichte der Unrast, die, bei höchster Geschwindigkeit, zum Stillstand führte. Es ist nicht seine Geschichte. Es ist unsere Geschichte. Sentimental ist sie auch.



Jürgen Schreiber, bis Anfang 2007 Chefreporter des Tagesspiegels, hat den Werdegang Joschka Fischers seit den frühen 80er Jahren begleitet. Der abgedruckte Text ist ein Auszug aus Schreibers Buch „Meine Jahre mit Joschka. Nachrichten von fetten und mageren Zeiten“, das soeben im Econ Verlag erschienen ist. Die Buchpremiere – Lesung, Gespräch und Musik der Protestgeneration – findet am heutigen Dienstag in der Kalkscheune, Johannisstraße 2 in Berlin-Mitte statt. Der Beginn ist 19:30 Uhr.

Jürgen Schreiber

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false