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Politik: Kernkraftwerke: Schutzlos

"Höchst unwahrscheinlich" - mit dieser Floskel wiesen die Ingenieure jahrzehntelang jeden Gedanken von sich, dass Atomkraftwerke durch abstürzende Passagierflugzeuge gefährdet sein könnten. Nach den verheerenden Attacken von New York und Washington macht sich Ernüchterung breit.

"Höchst unwahrscheinlich" - mit dieser Floskel wiesen die Ingenieure jahrzehntelang jeden Gedanken von sich, dass Atomkraftwerke durch abstürzende Passagierflugzeuge gefährdet sein könnten. Nach den verheerenden Attacken von New York und Washington macht sich Ernüchterung breit. Die in Pennsylvania abgestürzte Maschine schlug nur rund 80 Kilometer vom Kernkraftwerk in Harrisburg auf. Hätten Abfangjäger das entführte Flugzeug abgeschossen, wären dort möglicherweise Trümmer niedergegangen. "Die meisten Kraftwerke wurden in den 60er und 70er Jahren errichtet, sie sind gegen solche Angriffe kaum gewappnet", sagt David Kyd, Sprecher der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO. "Die Reaktorblöcke noch dicker zu ummanteln, wäre sehr teuer und würde kaum etwas bringen." Zum Thema Online Spezial: Terror gegen Amerika Umfrage: Haben Sie Angst vor den Folgen des Attentats? Fotos: Die Ereignisse seit dem 11. September in Bildern Chronologie: Die Anschlagserie gegen die USA Osama bin Laden: Amerikas Staatsfeind Nummer 1 gilt als der Hauptverdächtige Die IAEO trifft sich dieser Tage in Wien zu ihrer Jahrestagung, das Thema überschattet die Beratungen.

Tatsächlich sind die Reaktorblöcke von Atomkraftwerken gegen Flugzeugabstürze gesichert. Doch die doppelte Stahlbetonwandung kann nur kleine Militärjets abhalten, die mit knapp 800 Kilometern pro Stunden aufprallen. So war im März 1988 eine französische Mirage nur rund 1500 Meter von den Atomkraftwerken in Niederaichbach, Ohu I und II aufgeschlagen. Ganze fünf Flugsekunden trennten den zehn Tonnen schweren Kampfbomber von den Reaktorblöcken. "Eine hundertprozentige Sicherheit gegen solche Unfälle bietet nur der Ausstieg aus der Atomkraft", meint Michael Schroeren, Sprecher im Bundesumweltministerium. "Man muss das Risiko minimieren, indem man diese Kraftwerke so schnell es geht vom Netz nimmt."

Bislang galt die amerikanische Boeing 747 als größtes Verkehrsflugzeug der Welt. Im vergangenen Jahr kündigte das europäische Airbus-Konsortium den "Super-Airbus" A 380 an. Er trägt bis 550 Menschen, sein Startgewicht erreicht bis zu 560 Tonnen, davon rund 310 000 Liter Kerosin. Die in das World Trade Center eingeschlagenen Flugzeuge waren nicht halb so groß, auch eine Concorde könnte sich hinter diesem Giganten verstecken. "Gegen einen gezielten terroristischen Anschlag mit einer solchen Maschine ist überhaupt kein Kraut gewachsen", schätzt Heinz-Peter Butz von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) in Köln.

Die Folgen eines Aufpralls wären unüberschaubar: "Eine Attacke wie auf das World Trade Center könnte eine Kernschmelze auslösen", bestätigt Lothar Hahn, Leiter der Bundeskommission für Reaktorsicherheit. Dann würde ein getroffener Reaktor explodieren wie seinerzeit der Block 4 im Kraftwerk von Tschernobyl. Auch könnte das brennende Kerosin die Stahlbewehrungen erweichen wie am World Trade Center. Der dicke Betonmantel wäre dann ohne Rückgrat, die Reaktorhülle würde implodieren, große Mengen Radioaktivität würden freigesetzt.

Doch nicht nur Kernreaktoren sind betroffen. Auch aus einem getroffenen atomaren Zwischenlager könnte radioaktive Substanz entweichen. "Unsere Strategie ist es, kleine, dezentrale Zwischenlager einzurichten", sagt Schroeren. "Dort ist das Risiko geringer als bei einem oder zwei großen Lagern in Gorleben und Ahaus." Abgeschaltete Kernkraftwerke sind ebenso gefährdet, denn oft bleiben die Brennelemente noch lange im Reaktor, bevor sie aufwändig entsorgt werden.

Heiko Schwarzburger

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