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Brennende Häuser im griechischen Ort Distomo nach dem Massaker an 218 Bewohnern 1944

© picture alliance/dpa

Kolonial- und Kriegsverbrechen vor Gericht: "In Konflikt mit den Menschenrechten"

Ob afrikanische Überlebende von Kolonialverbrechen, ob italienische NS-Opfer: Klagen gegen Deutschland scheitern bisher an der "Staatenimmunität". Auch künftig?

Frau Branca, Herr Aust, Sie haben kürzlich an der Freien Universität Berlin einen Workshop „Immunity under Pressure?“ veranstaltet. Ist das völkerrechtliche Prinzip der Staatenimmunität – nach dem Staaten nicht von Gerichten anderer Staaten abgeurteilt werden dürfen -, tatsächlich unter Druck?

Branca: Ja, das ist es, seit Überlebende und Angehörige von NS-Opfern in Italien und Griechenland gegen Deutschland klagen. Die Massaker, um die es hier geht, wurden bisher nicht durch andere Mechanismen gesühnt. Das Urteil 238/2014 des italienischen Verfassungsgerichtshofs zeigte eine Tendenz, die Immunität auch im Falle hoheitlichen Handelns zu begrenzen. Und Italiens höchstes Zivilgericht, der Kassationsgerichtshof, stellte fest, dass Massenverbrechen jenseits dessen sind, was man als gewöhnliche Ausübung staatlicher Souveränität sehen kann. Ein Staat kann sich demnach also in solchen Fällen nicht auf seine Immunität gegen Klagen berufen.

Der Internationale Gerichtshof, vor dem Italien und Deutschland genau diese Frage 2012 klären ließen, hat allerdings der traditionellen Sicht recht gegeben und die Unzulässigkeit der Klagen von NS-Opfern festgestellt. Bricht Völkerrecht nicht nationales Recht?

Aust: Das tut es, dennoch ist die Frage in der Praxis nicht so klar zu beantworten. Völkerrecht ist nicht so stark integriert und hat so unmittelbare Auswirkungen wie zum Beispiel das Europarecht auf die EU-Staaten. Das Völkerrecht überlässt es nationalem Recht, wie es umgesetzt werden kann. Entsprechend hat auch Italiens Verfassungsgericht gesagt: Wir wissen, dass wir hier gegen Völkerrecht verstoßen, aber unsere Verfassung zwingt uns dazu. Und wir hoffen, damit auf längere Sicht auch einen Anstoß für Veränderungen im Völkerrecht zu erreichen, das ja Gewohnheitsrecht ist.

Eleonora Branca lehrt und forscht als Juristin an der Universität Verona und der FU Berlin. Das Recht von Kriegs- und Konfliktfolgen gehört zu ihren Spezialgebieten.
Eleonora Branca lehrt und forscht als Juristin an der Universität Verona und der FU Berlin. Das Recht von Kriegs- und Konfliktfolgen gehört zu ihren Spezialgebieten.

© privat

Sehen Sie dafür Chancen?

Aust: Wenn das funktionieren sollte, müssten auch andere nationale Gerichte das so sehen. Es gibt aber derzeit keine völkerrechtlich relevante Praxis, die die italienische Auffassung stärken könnte. Ansätze dazu gab es in den 1990er Jahren, etwa als Chiles früherer Machthaber Pinochet zeitweise in Großbritannien festgehalten wurde. Da ging es aber nicht um einen Staat, sondern um einen Amtsträger und seine strafrechtliche Verantwortlichkeit.

Branca: Zu ergänzen wäre, dass es zwar inzwischen Druck auf das Prinzip der Staatenimmunität gibt, aber selbst in Italien ist der viel schwächer, wenn es um den Vollzug geht. Ein gutes Beispiel ist das Urteil des Kassationsgerichtshofs im Fall der Villa Vigoni, die beschlagnahmt werden sollte, um die Ansprüche der Kläger zu befriedigen. Hier entschied Rom, dass die Villa am Comer See, die im Besitz des deutschen Staats ist, öffentlichen Zwecken dient und daher unter die Staatenimmunität fällt.

Helmut Aust ist Professor für öffentliches Recht und Internationalisierung der Rechtsordnung an der Freien Universität Berlin.
Helmut Aust ist Professor für öffentliches Recht und Internationalisierung der Rechtsordnung an der Freien Universität Berlin.

© privat

Inzwischen versuchen die Kläger, Konten der Deutschen Bahn in Italien heranzuziehen.

Aust: Ein interessanter Fall. Die Deutsche Bahn dürfte in Italien keine hoheitlichen Aufgaben wahrnehmen.

Branca: Über diesen Fall muss demnächst ein römisches Zivilgericht entscheiden – das entweder die Sicht der Richter von 2018 bestätigt oder aber Staatenimmunität in diesem Fall anders interpretieren könnte.

Nutzt Staatenimmunität im Völkerrecht noch oder ist sie aus Ihrer beider Sicht zu Recht unter Druck, weil sie Gerechtigkeit für die Opfer staatlicher Verbrechen verhindert?

Branca: Das Beharren auf den alten Standpunkt läuft darauf hinaus, dass er in Konflikt mit einer eher menschenrechtsorientierten Sicht kommt. Und es ist anzunehmen, dass es immer wieder solche individuellen Auseinandersetzungen vor nationalen Gerichten geben wird, solange die Einzelstaaten sich nicht gemeinsam bemühen, Opfern effektive Entschädigung zu bieten. Es wäre zu wünschen, dass es dafür diplomatische Anstrengungen gibt, die nicht auf Biegen und Brechen die Staatsräson zu retten versuchen, sondern der Gerechtigkeit genüge tut, die die Betroffenen wollen. Und man sollte über ergänzende Mechanismen nachdenken, um diese Gerechtigkeit herzustellen.

Was meinen Sie?

Branca: So etwas wie Wahrheitskommissionen. Sie können kein alleiniges Mittel der Sühne sein, aber sie können andere Formen der Entschädigung oder Reparation ergänzen. Für geteilte Erinnerung ist historische Forschung vermutlich nützlicher als Gerichtssäle. Die deutsch-italienische Historikerkommission, die 2012 ihren Abschlussbericht über die deutsche Besatzung in Italien ab 1943 veröffentlichte, bietet da ein gutes Beispiel. 

Exakt dagegen stellen sich die NS-Opfer und ihre Anwälte. Ihr Standpunkt ist: Historische Forschung ist gut, aber erst wenn ein Staat, hier Deutschland, zu zahlen bereit ist, anerkennt er wirklich sein Unrecht. Alles andere sind schöne Worte. Und sie wollen auch so etwas wie Generalprävention: Wer künftig einen Krieg anfängt, soll wissen, dass er danach dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Hat das in Ihrem Workshop eine Rolle gespielt?

Aust: Nein, darüber haben wir nicht direkt diskutiert. Das würde aber auch den jetzigen Klägerinnen und Klägern nicht helfen, die ja Entschädigung für Vergangenes fordern. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurden Reparations- und Entschädigungsregeln immer im Einzelfall verabredet und damit rückwirkend angewendet. Darauf hat man nach 1945 bewusst verzichtet. Der Versailler Vertrag von 1919, der Deutschland harte Reparationen auferlegte, hatte sich als keine nachhaltige Konstruktion erwiesen.

Und wenn man jetzt völkerrechtliche Regeln wie die Staatenimmunität für die Zukunft änderte?

Aust: Ich fürchte, dafür sind die Zeiten gerade ungünstig. In einer Zeit, da sich viele Staaten wieder stärker auf nationale Souveränität beziehen, werden wir da absehbar keinen großen Wurf hinbekommen. Aktuell sollten die Tendenzen im Völkerrecht eher dahingehen, das bestehende System zu stabilisieren.

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