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Sigmar Gabriel (SPD), Vorsitzender der Atlantik-Brücke e.V., bei einer Pressekonferenz im Oktober 2020

© Britta Pedersen/dpa

Kritik an der Bundesregierung: Gabriel nennt Europas Rolle im Ukraine-Konflikt „beschämend“

Ex-Außenminister Gabriel fordert eine offene Diskussion über Waffenlieferungen. Auch Sicherheitsexperte Ischinger kritisiert die Bundesregierung scharf.

Der ehemalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) fordert eine offene Diskussion über deutsche Waffenexporte an die Ukraine. „Die Wahrheit ist, man kann sich bei Rüstungslieferungen immer schuldig machen - durch Handeln und durch Nichthandeln. Was wir bei der Ukraine jetzt brauchen, ist eine Diskussion ohne Tabus und Denkverbote in der Öffentlichkeit und im Bundestag“, sagte Gabriel der „Bild am Sonntag“.

Die Bundesregierung sieht sich seit Wochen Forderungen nach einer stärkeren Unterstützung der Ukraine im Konflikt mit Russland gegenüber, hält aber an dem Prinzip fest, keine Waffen in Konfliktgebiete zu liefern. Gabriel verwies darauf, dass die Bundesregierung vor einigen Jahren schon einmal von diesem Grundsatz abgerückt sei, als sie kurdischer Einheiten im Nordirak im Kampf gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) mit Waffen unterstützte.

Vom Handeln Europas und Deutschlands im Ukraine-Konflikt zeigte sich Gabriel tief enttäuscht: „Derzeit überlassen wir die Preisschilder für Krieg in Europa den Amerikanern. Ich finde das beschämend“, sagte der Vorsitzende der Atlantik-Brücke.

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„Wir sind uneinig in der Beurteilung der Situation in der Ukraine, haben Angst um unsere Wirtschaftsinteressen und sind froh, dass andere für uns die heißen Kartoffeln aus dem Feuer holen“, sagte Gabriel über die Rolle Europas in dem Konflikt. „Wir Europäer müssen lernen, unsere Interessen selbst in die Hand zu nehmen.“

Die umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2 sollte laut Gabriel bei einem Einmarsch Russlands in die Ukraine gestoppt werden. „Militärische Angriffe Russlands auf die Ukraine wären der Todesstoß für Nord Stream 2“, sagte der SPD-Politiker. Es sei aber richtig, dass sich Deutschland bislang nicht von dem Projekt verabschiedet habe: „Wenn man mit Russland verhandeln will, dann muss man möglichst viel auf dem Tisch liegen lassen und möglichst wenig vorher schon beerdigen.“

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Zur Befriedung des Konflikts in der Ostukraine schlägt Gabriel ein robustes UN-Mandat vor: „Was dort nötig wäre, ist eine internationale UN-Friedensmission, die den Waffenstillstand, den Abzug schwerer Waffen und die Beendigung jeder Gewalt dort robust durchsetzt - notfalls auch mit Waffen.“

Auch der Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger hat das zurückhaltende Agieren der Bundesregierung in der Krise scharf kritisiert. „Ungeschicklichkeiten“ im Umgang mit Nord Stream 2 und der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine hätten dazu geführt, dass Deutschland nun in den USA und bei anderen Bündnispartnern „in einem miesen, schlechten Licht“ dastehe, sagt der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur. „Deutschland hat bei einer ganzen Reihe von Partnern bereits Vertrauen verloren oder riskiert es gerade zu verlieren.“

Wolfgang Ischinger, der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, bei einer Pressekonferenz im Februar 2019

© Kay Nietfeld/dpa

Ischinger beklagte auch, dass die deutsche Zurückhaltung Russland in die Hände spiele. „Das Wackeln verschiedener deutscher Politiker ist natürlich in Moskau genau registriert worden“, sagte der frühere deutsche Botschafter in Washington.

Ischinger hält die Kritik an Deutschland in der Sache zwar für nicht ganz fair und verweist auf die umfangreichen deutschen Wirtschafts- und Finanzhilfen für die Ukraine und das über Jahre andauernde diplomatische Engagement zur Lösung des Ukraine-Konflikt. „Aber die Kommunikationspolitik der Bundesregierung war der Bedeutung dieses Vorgangs nicht angemessen“, sagte der Sicherheitsexperte. Es sei öffentlich auch kaum deutlich geworden, dass Deutschland sich um eine europäische Position in der Ukraine-Krise bemüht. Die Bundesregierung sei ihrer selbstgesetzten europäischen Führungsaufgabe nicht gerecht geworden.

Der Westen befürchtet einen Einmarsch Russlands in die Ukraine

Russland hat nach westlichen Angaben mehr als 100.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze zusammengezogen. Den Westen treibt deshalb die Sorge um, dass Russland nach der Annexion der Krim 2014 einen Einmarsch in das Nachbarland vorbereitet.

Der Kreml bestreitet Angriffspläne, führt aber gleichzeitig ins Feld, sich von der Ukraine und der Nato bedroht zu fühlen. Von der Nato fordert Präsident Wladimir Putin daher schriftliche Zusagen etwa zum Verzicht auf eine weitere Osterweiterung. Die USA und ihre westlichen Verbündeten weisen dies zurück. (AFP, dpa)

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