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Lampedusa: Fels in der Landung

Man hört am Lärm der Hubschrauber, wenn ein Boot gesichtet wird. Weit draußen auf dem Meer, voller Flüchtlinge. Und mit der Ruhe auf der winzigen Insel Lampedusa ist es vorbei. Eine Maschinerie der Abschiebung läuft an - und Europa streitet über Zahlen.

Da liegen sie. Abgerissen, abgetakelt, mit schwerer Schlagseite und zersplitterten Planken, ein hölzerner Schiffsbauch neben dem anderen, am Heck die Zettel der Polizei: „Beschlagnahmt!“

Es waren mal Fischkutter, dann wurden es Flüchtlingsboote. Nun sind sie auf diesem Schiffsfriedhof gelandet, aufgebockt und ausrangiert, weiß und blau lackiert und mit denselben Linien wie die Boote, die gleich nebenan im Hafen schaukeln. Aber sie tragen arabische Schriftzüge, heißen nicht Madonna di Fatima oder Bella Rosaria, sondern Ben Ayed, Med Khames oder Ghofrane. Es sind die Boote, mit denen sich Flüchtlinge über den 130 Kilometer langen Seeweg von der tunesischen Küste nach Lampedusa durchgeschlagen haben. Und zwischen den Kuttern häufen sich, süßlich riechend und vermodernd, die Reste dieser Überfahrten: wattierte Jacken, zerrissene Pullis, einzelne Schuhe, vollgesogene Matratzen, Mineralwasserflaschen und Musikkassetten, alle mit arabischen Aufschriften. Dazu ein zerfleddertes „Handbuch für Schiffsmotoren“, in englischer Sprache.

Es ist ein seltsames Sinnbild der Agonie, da an der Hafenpromenade von Lampedusa. Genau gegenüber zum Meer hin steht eine Bronzeskulptur, die das Drama dieser Tage vorwegnimmt. Sie sieht aus wie ein auferstehender Christus, der mit Fetzen am Leib und die Arme zum Licht erhoben aus den Resten seines zerschellten Bootes gen Himmel strebt. Die Inselgemeinde hat dieses Mahnmal errichtet für die 3000 oder 4000 Bootsflüchtlinge, die während all der Jahre im Meer ertrunken sind. Und genau zwischen Schiffsfriedhof und Auferstehungsstatue müssen die Neuankömmlinge, deren Zahl bald in die 22 000 geht, heute durch auf ihrer Odyssee nach Europa. Wenn sie ankommen.

Man sieht gleich, wenn das geschieht. Dann kreist der Polizeihubschrauber über dem Hafen. Man hört es überall, denn der Hubschrauber ist laut, und die Insel ist winzig.

Aber oft kommen sie nicht an. Wie viele Boote umgeschlagen, wie viele Menschen ertrunken sind in den vergangenen Monaten lässt sich nicht beziffern. Erst letzten Dienstag kamen bis zu 300 Flüchtlinge ums Leben, als ihr überfülltes Gefährt in stürmischer See kenterte. Die herbeigeeilte Küstenwache wurde Zeuge der Katastrophe. 47 Menschen konnte sie lebend aus dem Meer ziehen.

Lampedusa ist zum Nadelöhr einer Fluchtbewegung geworden, die ganz Europa beschäftigt. „Was sollen wir machen?“, fragen die alten Fischer. Vor dem „Caffè del Porto“ diskutieren sie in beträchtlicher Lautstärke die politische und die meteorologische Lage, die nirgendwo sonst so eng miteinander verknüpft sind wie hier. Wenn das Wetter gut und die See glatt ist, können sie hier nicht mehr schlafen. Der Hubschrauber wegen. Und auch im Rest Europas wird die Diskussion darüber immer lauter, was mit den Flüchtlingen geschehen soll.

„Sie kommen halt“, sagt ein Fischer. „Und wenn man sie, so wie jetzt, gleich ins Lager sperrt, dann ist das ja auch nicht schlimm“, sagt ein anderer. „Aber die ersten 5000 Tunesier dieses Jahr, die sind frei herumgelaufen. Sie haben gebettelt. Sie haben an die Haustüren geklopft. Unsere Familien haben sich nicht mehr ins Freie getraut.“

Die jüngste Flüchtlingswelle hat Lampedusa kalt erwischt. Gut, sagen sich die alten Männer, es ist alles noch lange nicht so schlimm wie 2008, als fast 31 000 Afrikaner übers Meer herüberkamen. Monate gab es da mit mehr als 5000 Flüchtlingen auf einmal. Dann schloss Italiens Regierung den fünf Milliarden Euro teuren „Freundschaftsvertrag“ mit Gaddafi in Libyen. 2009 ebbte die Welle schon ab, 2010 zählten die Lampedusaner nur mehr 400 Flüchtlinge, so wenige wie seit 20 Jahren nicht mehr – und sie widmeten sich wieder dem, was nach dem Niedergang der Fischerei ihre Geldquelle geblieben war: dem Tourismus.

„Aber genau jetzt, da die Leute ihre Oster- oder Sommerferien buchen, kommt das da dazwischen“, sagt Hotelier Mario Liberatore. Er muss gar nicht ausführen, was er meint, eine vage Handbewegung Richtung Hafen ist deutlich genug. „Was glauben Sie, wie viele besorgte Anfragen oder Absagen ich bekommen habe.“ Bisher versuchte der Chef des „Grand Hotel Sole“ immer, seinen Kunden begreiflich zu machen, dass sie die Flüchtlinge gar nicht zu Gesicht bekommen. Die landen an der Mole, werden in Busse verladen, in das Lager gebracht, mitnichten laufen sie noch frei herum, das haben die Insulaner durchgesetzt. Das Lager ist zwei Kilometer außerhalb des Ortes, fernab vom Strand und unsichtbar in den Hügeln versteckt. Normalerweise klappt das, aber seit Ende März 6200 Tunesier auf einmal ankamen, die Insel überrannten und auf einer wachsenden Müllhalde dicht an dicht unter freiem Himmel campierten, haben Lampedusaner und mögliche Touristen einen Eindruck davon bekommen, wie schlimm im Ernstfall alles werden kann. Und Ernstfall ist schon wieder – auch nachdem Berlusconi sechs große Passagierfähren vorbeigeschickt hat, um, wie er sagte, Lampedusa „zu befreien“. Der Strom aus Tunesien reißt nicht ab.

„Wir haben Angst um die Saison“, sagt Liberatore. Auch der Begleiterscheinungen wegen. Lampedusa ist voller Polizei. „Zuerst gab es einen Polizisten auf 300 Flüchtlinge, jetzt ist es umgekehrt“, spöttelt der Hotelier. Und dann die Journalisten. Alle warten auf die große Flut, von der Italiens Innenminister gesagt hat, dass sie ein „Exodus biblischen Ausmaßes“ sei. Bei seinem Besuch auf Lampedusa am Freitag warnte Ministerpräsident Silvio Berlusconi vor einem „menschlichen Tsunami“.

„Am Ende kommt’s wieder so wie letztes Jahr“, sagt Liberatore. „Als unsere Küstenwache einmal die Leichen von Ertrunkenen geborgen hatte, 60 Seemeilen vor der Insel, schrieben die italienischen Zeitungen von den ,Kadavern im Meer von Lampedusa’. Wer, glauben Sie, will da noch an unseren Stränden baden?“

Die Zentrale der Küstenwache liegt in Panoramalage auf einem Felsen über dem Hafen. Ein gemauerter Grill vor dem Haus lässt darauf schließen, dass man in der Behörde zu feiern versteht und wohl auch Zeit dafür hatte. Aber die Ringe unter den Augen des wortkargen Kommandanten Antonio Morana haben ihm Arbeitstage von 21 bis 22 Stunden ins Gesicht gemalt. „Wir sind auf alles vorbereitet“, sagt der Mann. Aber was das sein wird, das weiß auch er nicht so genau.

Küstenwache und Finanzpolizei tragen wie eh und je die Hauptarbeit bei diesem Flüchtlings- oder Einwandererdrama. Sie müssen Patrouille fahren, Boote aufspüren, sie durch den schweren Seegang geleiten, hereinschleppen, Personalien aufnehmen, so viel wie möglich dokumentieren. Weil: „Danach sind die Leute in ganz Europa verstreut“, sagt Davide Miserendino von der Finanzpolizei. Und die Flüchtlinge zurückschicken, so wie es Italiens Verträge mit Tunesien oder Libyen vorsehen und die Europäische Union das will? „Unsere Aufgabe ist die Erste Hilfe im Meer, nicht die Zurückweisung“, sagt Kommandant Morana knapp.

Aber sollte nicht die europäische Grenzschutzbehörde Frontex auf Lampedusa aktiv sein? „Wir haben denen ein Boot zur Verfügung gestellt für den Fall, dass sie es brauchen. Aber so weit ist es noch nicht.“ So ist Frontex lediglich virtuell auf Lampedusa vertreten. Von der Warschauer Behörde, die die Außengrenzen des Schengenraums gegen illegale Einwanderung abdichten soll, läuft nur Pressesprecher Michal Parzyszek herum. Ein reguläres Büro hat er nicht. Er ist da, damit die Medien einen finden, den sie fragen können.

Also dann, Herr Parzyszek, im Caffè del Porto: Was tut Frontex? „Wachsam bleiben, die Situation beobachten, Pläne vorbereiten für alle Mittelmeerländer, Flüchtlinge auf mögliche Asylgründe befragen und dann sortieren, aber nicht hier in der Durchgangsstation Lampedusa, sondern erst auf dem Festland.“

Sortieren, schön. Und dann? „Und dann bleibt Frontex abhängig von den Beschlüssen der europäischen Länder.“

Aha.

Unten am Hafen legt Schnellboot der Küstenwache an. Einen richtigen Namen hat es nicht, getauft ist es auf die technische Bezeichnung CP 302. Das nagelneue, von der EU finanzierte Schiff kommt gerade von einer Patrouille zurück. Ein Sanitäter ist mit an Bord, wie immer, wenn CP 302 ausrückt. Der Norditaliener im neon-leuchtenden Overall erzählt, dass früher vor allem ausgezehrte Somalier oder Eritreer angelandet seien. „Die Tunesier heute organisieren sich viel besser. Sie sind nicht den Seelenverkäufern irgendwelcher Schleuser ausgeliefert, sondern kaufen sich gut funktionierende Fischerboote. Sie treiben nicht mehr motor- und steuerlos auf offener See. In 24 Stunden sind sie da.“

Und auf die Straße, die zwischen Schiffsfriedhof und Denkmal hindurch, an Kaktushecken und dürren Feigenbäumen vorbei ins Lager führt, haben Flüchtlinge gesprüht: „Tunis no! Viva Lambadousa!“

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