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Mann der Mitte: Joe Biden ist mit Pragmatismus zum Mann der Stunde geworden.

© Jim Watson, AFP

Biden, Ardern, Labour: Linke Ideologien sind gerade nicht gefragt

Viele Wählerinnen und Wähler haben genug von der Polarisierung, sie wollen soliden Pragmatismus. Für linke Parteien führt das in ein Dilemma. Ein Gastbeitrag.

- Michael Bröning ist Direktor der Friedrich-Ebert-Stiftung in New York und Mitglied der Grundwertekommission der SPD. Copyright: Project Syndicate, 2020. Aus dem Englischen übersetzt von Eva Göllner, www.project-syndicate.org

Die fortschrittliche Intelligenzia Europas lästert gern über den politischen „Zentrismus“. Ihr Argument: eine fehlgeleitete Fokussierung auf den Mittelweg verhindere die Formulierung politischer Alternativen und führe zum Aufstieg extremistischer Parteien auf der linken und rechten Seite. So gesehen sind die Begleiterscheinungen des Zentrismus Populismus, Polarisierung und wachsendes Misstrauen gegenüber demokratischen Prinzipien.

Diese Analyse ist nicht völlig verkehrt. Demokratie erfordert offene und kontroverse Gespräche über den besten Weg Richtung vorwärts. Die Tür zu politischen Alternativen zu schließen, indem man den Status quo umarmt, ist das Rezept für eine Katastrophe. „Die Debatte ist nie am Ende“, schrieb der 2017 verstorbene polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman. „Das kann sie gar nicht, sonst wäre die Demokratie nicht mehr demokratisch.“

Das bedeutet jedoch nicht, dass die politischen Parteien der linken Mitte dem Mittelweg den Rücken kehren sollten. Tatsächlich deuten einige der aktuellen Wahlkampf-Hotspots darauf hin, dass sie das Gegenteil tun sollten. Trotz der zunehmenden politischen Polarisierung in vielen Ländern scheint sich eine große Zahl von Wählern mit zentristischen Positionen wesentlich wohler zu fühlen, als oft angenommen wird.

Linke politische Parteien, die ihr ideologisches Profil schärfen wollen, stehen damit vor einem Dilemma: Während Parteiaktivisten häufig eine größere ideologische Klarheit fordern, ziehen die Wähler zunehmend den Pragmatismus der reinen Lehre vor. Die vielversprechendste Vorgehensweise für fortschrittliche Politiker besteht also wahrscheinlich darin, eine langfristige ideologische Vision mit der Realität eines schrittweisen Wandels zu verbinden.

So hielt es auch Joe Biden in den USA. Seine Agenda im US-Wahlkampf war klar fortschrittlicher als die von früheren demokratischen Kandidaten – doch verglichen mit seinen anfänglichen innerparteilichen Kandidatenkonkurrenten Bernie Sanders und Elizabeth Warren war sie deutlich zentristischer. Ein paar Beispiele: Was die Einwanderung betrifft, ist Biden für humanitäre Großzügigkeit, aber nicht für die Entkriminalisierung illegaler Grenzübertritte.

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Beim Klimawandel ist er für kohlenstoffneutralen Wohnungsbau und das Ziel, dass der US-Energiesektor bis 2035 kohlenstofffrei sein soll, aber nicht dafür, den vom linken Flügel seiner Partei favorisierten Green New Deal vollständig zu übernehmen. Ebenso schreckt Biden vor Forderungen zurück, Fracking zu verbieten, Mittel von der Polizei abzuziehen und in die Förderung sozialer Dienste zu stecken, und eine universelle Gesundheitsversorgung für Einzelzahler einzuführen. Diese Art Zentrismus teilt auch Kamala Harris, Bidens Kandidatin für das Amt der Vizepräsidentin.

Eine ähnliche Geschichte spielt sich in Neuseeland ab, wo Premierministerin Jacinda Ardern bei den Parlamentswahlen vom 17. Oktober überzeugend gewann. In fortschrittlichen Kreisen wird Ardern weithin als globale Ikone gefeiert. Sie ist erst die zweite Premierministerin der Neuzeit, die während ihrer Amtszeit ein Kind bekam, sie ist bekannt für ihre offene Kommunikation und war zuletzt eine ernsthafte Kandidatin für den diesjährigen Friedensnobelpreis.

Doch im Gegensatz zu ihrem globalen Image ist der innenpolitische Erfolg von Ardern eher das Ergebnis zentristischer Flexibilität als transformativer Ambitionen. Als Vorsitzende einer Dreierkoalition in ihrer ersten Amtszeit war Ardern nicht in der Lage, ihre weitreichendsten politischen Vorschläge umzusetzen – darunter die zur Lösung der neuseeländischen Immobilienkrise. Sie profitierte jedoch von ihrem effektiven Management der Covid-19-Pandemie und ihrer mitfühlenden und entschlossenen Reaktion auf das Massaker von Christchurch im März 2019, bei dem 51 muslimische Gläubige getötet wurden.

Mit moderaten Vorhaben zur absoluten Mehrheit

In ihrem jüngsten Wahlkampf konzentrierte sich die Labour Party von Ardern auf moderate Reformvorschläge, die die Wähler der Mitte ansprachen. Dazu gehörten begrenzte Erhöhungen des Mindestlohns und leicht höhere Steuern für die Wohlhabenden als Teil einer verantwortungsbewussten wirtschaftlichen Erholung sowie eine Politik der öffentlichen Ordnung wie die Erhöhung und nicht die Verringerung der Zahl der Polizeibeamten, die ihren Gemeinden dienen. Die Mischung kam gut an, Arderns Partei errang bei den Wahlen Mitte Oktober die absolute Mehrheit.

Die Labour-Partei Großbritanniens ist derweil dabei, sich nach ihrer katastrophalen Niederlage bei den Parlamentswahlen im Dezember 2019, die den weit links stehenden Führer Jeremy Corbyn zum Rücktritt zwang, als eine eher zentristische politische Kraft neu zu erfinden.

Corbyns Nachfolger, Keir Starmer, nutzte die (virtuelle) Jahreskonferenz von Labour im September, um einen umfassenden Bruch mit dem Erbe Corbyns anzukündigen. Zu Starmers „neuer Führung“ gehört die Neuausrichtung von Labour auf Familienwerte mit Schwerpunkt auf Sicherheit und wirtschaftlicher Vorsicht.

In seiner Konferenzrede erklärte Starmer vor verärgerten Arbeiterwählern: „Wir lieben dieses Land genauso wie ihr.“ Seine Neupositionierung beinhaltet somit auch einen gewissen Linkspatriotismus – ein Begriff, der seinem standhaften internationalistischen Vorgänger ein Gräuel war und ein klarer Bruch mit dem bisherigen Labour- Jargon ist.

Die Wählerinnen und Wähler sind der Polarisierung müde

Starmers erklärtes Ziel ist es, das Vertrauen der Wähler aus der Arbeiterklasse zurückzugewinnen, die die Partei unter Corbyn aufgegeben haben. Bisher scheint der Plan zu funktionieren. Obwohl die nächsten Parlamentswahlen in Großbritannien erst 2024 stattfinden sollen, liegt die Labour-Partei nach jüngsten Meinungsumfragen Kopf an Kopf mit der regierenden Konservativen Partei.

Die gegenwärtige Dynamik, die die politischen Progressiven genießen, die sich bewusst an die politische Mitte wenden, birgt wichtige Lehren für ihre kämpfenden Amtskollegen anderswo. Die Progressiven sollten sich sicherlich nie mit dem Status quo zufriedengeben. Es bleibt entscheidend, politische Alternativen und einen Weg in eine bessere Zukunft anzubieten – nicht zuletzt und gerade während einer Pandemie. Aber da die Wählerinnen und Wähler durch die jahrelange Polarisierung zunehmend erschöpft sind, wären fortschrittliche Parteien, die es mit Machtgewinn und Machterhalt ernst meinen, gut beraten, ihre Opposition gegen den Zentrismus zu überdenken.

Michael Bröning

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