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Politik: London trotzt dem Trauma

Die Stadt gedenkt der Opfer – und geht zum Alltag über / Angst vor einer neuen Qualität des Terrors

Es ist ein steter Strom von Londonern und Besuchern der Stadt, die am Dienstagmorgen zur neuen zentralen Gedenkstätte im Regierungsviertel Westminster pilgern. Die Warteschlange vor dem Kondolenzbuch im „London Memorial Garden“, einem kleinen Park, der am Vortag offiziell von Bürgermeister Ken Livingstone als Gedenkort eröffnet wurde, reißt nicht ab. Die meisten sind gekommen, um sich in das dicke, schwarze Buch einzutragen. „Wir gedenken in Liebe der Bürger Londons“, schreibt eine Frau. „Unsere Gedanken sind mit den Familien der Opfer“ eine andere. Bürgermeister Livingstone hatte zuvor geschrieben: „The city will endure“, sinngemäß: London lässt sich nicht unterkriegen.

Dies ist auch die Stimmung, die man am Dienstagmorgen in den U-Bahnen und auf den Straßen der britischen Hauptstadt spürt. Sollten die Menschen Angst vor weiteren Anschlägen haben, vor denen die Polizei warnt, lassen sie sich das nicht anmerken. Busse und Bahnen sind wieder voll, die Anschläge, bei denen nach inoffiziellen Zahlen der Polizei 74 Menschen starben, nur noch eines von vielen Gesprächsthemen der Menschen auf dem Weg zur Arbeit.

Kaum jemand beachtet die regelmäßigen Durchsagen, mit denen vor unbeaufsichtigten Gepäckstücken gewarnt wird. Auch an die zusätzliche Präsenz Dutzender Polizisten in jeder U-Bahnstation hat man sich fünf Tage nach den Anschlägen gewöhnt, ebenso wie an die andauernde Sperrung dreier U-Bahnlinien – die meisten Menschen steigen einfach auf Busse und andere U-Bahnen um.

Die später am Tag verkündeten Neuigkeiten von den ersten Fahndungserfolgen der Polizei erreichen viele Londoner auf dem Rückweg von der Arbeit: „Sondereinheit durchsucht fünf Wohnungen“ steht in großen Lettern auf dem Titel des „Evening Standard“, den fliegende Händler vor den U-Bahnstationen verkaufen. Ein BBC-Reporter steht an der U-Bahnstation King’s Cross, dem Ort des verheerendsten Anschlags. Er befragt Passanten zu der neuen Erkenntnis der Polizei, dass die Bomben mit großer Wahrscheinlichkeit von Selbstmordattentätern gezündet worden sind, die bei den Anschlägen gemeinsam mit ihren Opfern starben. Die Reaktionen sind gespalten: „Es ist traurig, dass die Täter nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können“, sagt eine Frau. „Jetzt ist der Gerechtigkeit Genüge getan“, sagt eine andere. Ähnlich gespalten sind die Reaktionen auf die Frage, mit welchem Gefühl die Menschen nun künftig U-Bahn fahren werden: Einige sagen, sie fühlen sich sicherer, da die Täter ja nun keine weitere Anschläge mehr verüben können, andere befürchten, dass die vier Selbstmordattentäter nur der Beginn einer neuen Qualität des Terrors in Europa sein könnten.

Auf geteilte Reaktionen war zuvor auch die Ankündigung der Regierung gestoßen, wegen der Anschläge schärfere Antiterrorgesetze zu erlassen. Laut einer Umfrage im Auftrag der „Times“ sprechen sich vier von fünf Londonern dafür aus, der Polizei mehr Möglichkeiten zu geben, Verdächtige zu untersuchen. Die Einführung eines obligatorischen Personalausweises, den es in Großbritannien bislang nicht gibt, unterstützt jedoch nur jeder zweite Londoner.

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