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Politik: Mach mal lauter

Größer, kräftiger. Damit unerhörte Musik zu hören ist. Vor 50 Jahren baute Jim Marshall den Verstärker schlechthin. Er dröhnt bis heute.

Wenn Äcker hören könnten, hätten sie an diesem Abend bemerkt, dass sie Verwandtenbesuch haben. Erdig ist das, was da gerade auf sie niedergeht. Erdig, hatte Siegbert Merker gesagt, und damit ein Geräusch gemeint.

Das Geräusch quillt träge aus den Fachwerkritzen von Merkers Scheune, macht noch ein paar Meter, dann sinkt es kraftlos auf das Pflaster im Hof und bleibt liegen. Doch immer, wenn das Scheunentor aufgeht, erhebt es sich noch einmal wie nach einer Infusion, bekommt die Umrisse eines Liedes und taumelt weiter, überquert die Dorfstraße und die Nachbargrundstücke und zerfällt schließlich auf den Feldern dahinter, im Lautlosen, im Raps.

Dort draußen war es vorher noch nie. Zu konstatieren ist deshalb auch eine Landnahme, die Eroberung einer neuen Provinz, der Äcker von Reckershausen, zugehörig zur Gemeinde Friedland, Landkreis Göttingen, gelegen in Südost-Niedersachsen, im einstigen Zonenrandgebiet. Ein weiteres, nach zahllosen anderen von diesem Geräusch markiertes Stück der Welt. Es beschallt den Planeten seit 50 Jahren und kommt aus wohnzimmeraquariengroßen, kunstlederbezogenen Sperrholzkisten.

Die Kisten sind Elektrogeräte, die die dünnen Töne einer E-Gitarre so kräftig machen, dass wiederum eine Lautsprecherbox überhaupt erst etwas mit ihnen anfangen kann. Darüber hinaus prägen sie den Klang. Es handelt sich bei ihnen um Gitarrenverstärker der Marke „Marshall“. Siegbert Merker, der am Nachmittag, die Taubheit der Äcker vorab entschuldigend, auch gesagt hatte: „Das Hörerlebnis setzt aber erst bei gewisser Lautstärke ein“, besitzt etliche davon. Er hat ihnen eine Kathedrale gebaut.

Rock 'n' Roll ist keine Lärmbelästigung

Rock 'n' Roll wird nicht sterben

Rock 'n' Roll ist keine Lärmbelästigung

Rock 'n' Roll wird überleben.

(„Rock and Roll Ain't Noise Pollution“, AC/DC, 1980)

Das Hörerlebnis besteht in diesem Moment darin, dass Merker in seiner Scheune steht, vor seinem Bauch eine Gitarre, um ihn herum die anderen Mitglieder der Band „Die Eisenbrecher“, und alle zusammen das Lied „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ von Marius Müller-Westernhagen intonieren. „Mit Pfefferminz, mit Pfefferminz, mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“, ein dreistes, grobes, kleines Lied, das nach seinem Erscheinen im Jahr 1978 trotzdem zum Millionenhit wurde. Heute ist es ein etablierter, aber nur noch mit dem Mindestmaß an Spott auszuhaltender Gassenhauer, mit dem „Die Eisenbrecher“ ihn vortragen.

Drei Dutzend Menschen hören zu, sie wippen mit den Füßen, einige Frauen tanzen. Eine gewisse Lautstärke ist in der Tat auch vorhanden. Eine Ahnung, was genau Merker gemeint haben könnte, als er die Klangeigenschaften der Marshalls erdig nannte, ebenfalls. Es ist jedoch auch der Moment an diesem Abend, in dem es am wenigsten zu fassen ist, dass dieser Klang irgendwann einmal kompromisslos gewirkt haben muss, dass er ein Wagnis war, eingefordert von Leuten, die alle einen Knall hatten, und geschaffen von einem, der ein Hellseher war.

Merker ist Jahrgang 1961. Er ist also in etwa so lange auf der Welt wie die Marshall-Verstärker, die irgendwann zwischen Juli und September 1962 erfunden wurden. Er ist auch in etwa genauso gealtert. Ein schlanker, jugendlich wirkender Mann in Jeanshose, Jeansjacke, Turnschuhen, dem gleichzeitig die Jahre anzusehen sind. Merker ist Bauer und hat deshalb ein braungebranntes Gesicht, gegerbt vom vielen Draußensein und vom Rauchen. Eingerahmt ist es von langen, glatten, grauen Haaren. Flink wie ein Reh ist Merker, wenn er auf jeden neu ankommenden seiner Gäste zugeht, aber auch in der Lage, mit hängenden Schultern und abwesendem Blick durch den Raum zu latschen.

Er feiert Einweihung. Den ganzen Tag über ist er sehr unruhig gewesen, ein bisschen durcheinander, am Nachmittag war noch der Klempner da und hat endlich die erste der neuen Toiletten an die Kanalisation angeschlossen. Nun weiß Merker selbst nicht mehr genau, ob sein Fest anlässlich der fertig gewordenen Sanitäranlage stattfindet, oder ob diese Sanitäranlage nur deshalb noch rasch eingebaut worden ist, damit das Fest stattfinden kann.

Mehr als ein Jahr lang hat er an der Scheune gebaut, seine Nachbarn, Freunde, Verwandten haben mitgemacht. Sie haben Backsteinfugen ausgekratzt und wieder zugeschmiert, Holzbalken abgeschliffen, entwurmt, geölt. Sie haben einen Betonfußboden verlegt, Fenster in die Wände gebrochen, Scheinwerfer an die Decken geschraubt und einen Holzofen Marke Bullerjan repariert. Jetzt hat Reckershausen einen neuen Veranstaltungssaal und Merker, der sich in Menschenansammlungen eigentlich unwohl fühlt, sein privates Marshall-Museum.

Feierlich stehen Merkers Kisten an den Wänden. Sie sind nach Farben geordnet, aufgeschichtet zu sogenannten „full stacks“, zu Komplettstapeln. Unten zwei Boxen, obendrauf, auf Augenhöhe, jeweils ein Verstärker. Schwarz dominiert, dazwischen stehen Stapel in schwerer aufzutreibendem Weiß, in Rot, in Grau, in hellen und dunklen Vioeletttönen. 44 Sperrholzkisten, sehr alte und sehr neue, von denen an diesem Abend jedoch anfangs nur eine eingeschaltet ist, später sind es vier. Würde Merker die Gitarre an alle 44 anschließen, wäre seine schöne neue Scheune rasch wieder weg.

Ich bin nicht leise - nur alle anderen sind zu laut.

(„The Quiet One“, The Who, 1981)

Es war in Merkers Geburtsjahr 1961, als ein halbes Kind mit dem Namen Pete Townshend anfing, regelmäßig einen Instrumentenladen in West-London, in der Uxbridge Road 76, zu besuchen. Der Junge war 16, drei Jahre später wird er die Rockgruppe The Who gründen, aber noch spielte er Gitarre in einer Schülerband, und er war unzufrieden. Die Verstärker, die er besaß, waren ihm zu leise. Die Verstärker, die es in London zu dieser Zeit zu kaufen gab, auch. Die Musikläden der Stadt versorgten damals vor allem Tanzmusiker, die großen Swingorchester.

Townshend sprach mit Jim Marshall, dem Ladenbesitzer. „Wenn ich einen Auftritt habe, und jemand in der ersten Reihe sagt ,Das ist doch Mist', dann kann ich das hören. Und ich will es nicht mehr hören, okay? Ich brauche einen größeren und kräftigeren Verstärker.“ So hat es Townshend einmal in einem Radiointerview erzählt. Marshalls Augen sollen zu leuchten begonnen haben. „Ich wollte eine mächtige Waffe“, sagte Townshend im Radio, „und Marshall würde sie mir bauen.“ Und Marshall baute.

Falls es sich also wirklich so zugetragen hat, ging es nur um die Lautstärke. Größer, kräftiger hatte Townshend gesagt. Er hat, wenn seine Schilderung stimmt, nicht gesagt: erdig.

Jim Marshall kann man dazu nicht mehr befragen, er ist im April gestorben. Pete Townshend wiederum mag sich nicht fragen lassen. Seine Zugehfrau richtet aus, dass er gerade an einem Buch schreibe, sein Lebenslauf, 400 Seiten, der Verlag dränge auf Fertigstellung. Townshend habe leider keine Zeit.

Größer, kräftiger. Irgendetwas über diese klaren Worte hinaus muss Marshall aber beschäftigt haben, denn er baute zusammen mit zwei Angestellten im Jahr 1962 erst eine Reihe von Prototypen, laut waren sie alle, bevor er im September schließlich zufrieden war. Er hatte eine Musik im Kopf, die es noch nicht gab. Unerhörte Musik, Rock, für deren Klang die drei Männer eine Sprache finden mussten, während sie bauten, beratschlagten, immer wieder Townshend und andere kindliche Gitarristen um ihre Meinung baten, verwarfen und wieder verwarfen.

„Ich konnte den Ton förmlich hören“, hat Marshall später einmal gesagt. Die Sprache dafür war ihm da schon wieder abhandengekommen, vielleicht wollte er sie aber auch nur nicht mit der Öffentlichkeit teilen. Er blieb vage: „Es ist nicht einfach nur eine Verzerrung, es ist viel komplexer. Und vor allem ist es musikalisch.“

Merker bleibt dabei: „erdig“, sagt er. Er sagt auch „harmonisch“, „druckvoll“, „ehrlich“. Hendrix sagt:

Ich hab' einen Kolibri, der summt so laut,

er bringt dich um den Verstand, hmmm ...

(„Voodoo Chile“, Jimi Hendrix, 1968)

Merker und Marshall waren ungefähr im gleichen Alter, als sie diesen Klang, jeder auf seine Weise, entdeckten. Spätberufene, 38 und 39 Jahre alt. Marshall musste dafür Townshend begegnen, und Merker brauchte ein kaputtes Knie. Er durfte sein Bein drei Monate lang nicht bewegen. Was machste denn nu'?, habe er sich gefragt und sich dann auch selber die Antwort gegeben. Lernste eben Gitarre.

Nachts, auf dem Sofa in der guten Stube, nebenan liegt das Schlafzimmer. Immer schön „Stairway to Heaven“, Led Zeppelin, diedel-dimdum, so gegen zwei ging das immer los, sagt Merkers Lebensgefährtin, und immer an derselben Stelle hängen geblieben. Eines Nachts langte es ihr, sie rief einen Freund an, der im Musikgeschäft arbeitet und flehte: Bitte hilf mir, sag', dass du einen Gitarrenlehrer kennst. Am nächsten Morgen, nach dem Aufstehen, fand Merker einen Zettel auf dem Tisch. „Heute Abend, Hannoversche Straße, Göttingen, ist deine erste Stunde Unterricht.“

„Ja, und wieder ein bisschen später, da kam ein Typ zu uns ins Haus, mit Lederhut auf dem Kopf“, sagt Merker. „Das war der Bruder vom Gitarrenlehrer. Der hat gefragt, haste nich Bock, in `ner Band zu spielen?“ Nee, lass mal, ich bin Anfänger, habe er geantwortet, ist dann aber doch zu einer Probe hingegangen, und fortan brauchte er einen Verstärker. „Mein erster Marshall, hab' ich gebraucht gekauft, in Rosdorf, zwei Orte weiter.“

Das ist jetzt 13 Jahre her. Merker war auf den Geschmack gekommen.

Townshend hatte da die Lust an Marshall-Verstärkern längst schon wieder verloren. Hendrix war fast 30 Jahre tot, AC/DC war fast 30 Jahre alt. Andere Marshall-Superstars wie die Bands Kiss und Van Halen waren es auch. Deep Purple war noch älter, Led Zeppelin war Geschichte. Die 80er Jahre, das Jahrzehnt der Heavy-Metal-Bands, waren ebenso vorbei wie die Marshall-Vorliebe von Metallica. Und Guns N' Roses lag in Trümmern. Neu war nichts mehr. Aus der vorausahnenden West-Londoner Erfindung war eine Zutat für überholten Großväterrock geworden. Immer ein bisschen zu breitbeinig, fand die neue Zeit, immer viel zu aufgeplustert.

Auf den stilprägenden Bühnen standen nun zunehmend junge Konkurrenzprodukte, und mit den Musikern liefen auch die Klang-Metaphern über, die in den Jahren zuvor für Marshall-Verstärker gefunden worden waren. „Warm“ und „organisch“ tönten auf einmal die Geräte von Hughes & Kettner aus dem Saarland, „breit“ die von Engl aus Bayern, „sahnig“ die Soldanos aus dem US-Staat Washington, und Waffen, hieß es, Waffen würden von nun an einzig und allein die kalifornischen Mesa Boogies sein.

Dass die Firma Marshall dennoch nicht unterging, verdankt sie einem Entschluss ihres Firmengründers. Und Leuten wie Merker.

Als der um die Jahrtausendwende mit dem Sammeln begann, produzierte Marshall in seinem britischen Stammwerk 1700 Geräte pro Woche. In neuen, in Korea, Indien und China hochgezogenen Fabriken noch einmal 4800. 1970, in Hendrix' Todesjahr, waren es nur 700 gewesen. Marshalls waren billiger geworden. Hobbymusiker konnten sie sich nun leisten, Schüler, Gelegenheitsgitarristen, die ein bisschen an der Legende teilhaben mochten, ohne deshalb gleich Streit mit ihren Ehefrauen zu bekommen. Ältergewordene, die die Musik ihrer Jugend feiern wollten. Einen Marshall bekommt man heute schon für 80 Euro. Das teuerste Großserienmodell kostet ungefähr 1800 Euro. Waffenfabrikant Mesa Boogie verlangt für eines seiner besten Stücke fast das Doppelte.

Merker hat einmal, zwei, drei Jahre ist das her, 39000 Dollar ausgegeben. Die Anschaffung steht oben im ersten Stock, auf der Galerie. Sie ist mannshoch, kein Verstärker, sondern eine Lautsprecherbox. Sie soll einmal Pete Townshend gehört haben. Merker ist sich nicht vollständig sicher darüber, aber vieles spricht dafür. Erstens: Diese Box stammt aus dem Jahr 1964. Zweitens ist sie nur sechs mal hergestellt worden, vier Exemplare bekam The Who, zwei bekamen die Faces. Und wichtigstens: Oben rechts, in der Stoffbespannung, ist ein Loch. Townshend hat bei Konzerten regelmäßig Löcher in seine Boxen gehauen. Immer den Gitarrenhals voran und dann zugestochen.

Möglicherweise waren das sehr verstörende Momente damals. Eine Etage tiefer spielen „Die Eisenbrecher“ gerade das Lied „I will wieda hoam“.

Der Text ist ein Abgesang auf das Großstadtleben, auf Musiker, die dorthin gelockt werden mit dem Versprechen auf irgendetwas Großes, Wildes, Neues, Böses. Eine Art Versprechen, das auch der Musikalienhändler Jim Marshall mit seiner Sperrholzerfindung vor 50 Jahren abgegeben hatte. Er hat es gehalten damals.

Marshall konnte aber nicht verhindern, dass diese Erfindung über all die Zeit, die seitdem vergangen ist, ihren Charakter veränderte. Wenn seine Verstärker heute noch etwas versprechen, dann ist es nicht die Begegnung mit dem Unerhörten, sondern mit etwas sehr Vertrautem. Für Merker, den Bauern, der ihnen auf dem Dorf ein Museum gebaut hat, sind ihre Klänge zur Heimat geworden. So sehr wie seine Äcker.

Erdig, hatte Merker gesagt. Er hat vollkommen recht damit.

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