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Wie es auf dem Maidan in Kiew weitergehen wird, wagt mittlerweile niemand mehr zu prognostizieren.

© AFP

Machtkampf in der Ukraine: Tag 90

Bewaffnet und wütend stehen sie einander gegenüber. Die einen werfen Molotowcocktails, die anderen antworten mit Blendgranaten. Von der Bühne erklingen Gebete von Priestern. Der Protest in der Ukraine ist zum Bürgerkrieg geworden. Das Zentrum von Kiew gleicht einer Geisterstadt.

Die Verletzten liegen aufgereiht vor dem prächtigen Altar der Klosterkirche St. Michael. Viele dösen vor sich hin, nur wenige finden Schlaf. Inmitten des Elends steht Natascha und kämpft mit den Tränen. Sie ist hergekommen, um ihren verletzten Sohn Roman zu überreden, mit nach Hause zu nehmen. Doch der junge Mann liegt auf einer Pritsche und weigert sich. „Ich bleibe hier, das ist meine Entscheidung“, sagt er leise. Die Mutter hat sich Sorgen gemacht, weil sie ihren Sohn die ganze Nacht mit dem Handy nicht erreichen konnte. Roman zuckt mit den Schultern. „Es war einfach zu laut auf dem Maidan“, sagt er müde. Natascha weint, als sie Mittwochvormittag die Kirche verlässt, allein. „Ich habe Angst, um meinen Sohn, um Kiew, um das Land“, sagt sie zum Abschied.

Es sind echte Ärzte, die die Verletzten in dem provisorischen Lazarett der Klosterkirche versorgen. „Ich habe gestern Abend spontan entschieden, nicht zu meiner Schicht ins Krankenhaus zu fahren, sondern hierher“, sagt Sergej Trotschimtschuk. Der 45-Jährige versorgt in einer der ältesten Kloster Kiews Demonstranten, die Angst haben, sich in Krankenhäusern behandeln zu lassen. Sie befürchten, die Polizei könnte sie dort abfangen und bestrafen. „Ich habe in den vergangenen Stunden vor allem Menschen mit Schlagverletzungen und Schusswunden behandelt“, sagt Trotschimtschuk. Auf dem Hof des Klosters sortieren Helferinnen die Medikamentenspenden. Unter freiem Himmel stapeln sich Kartons mit Medizin, Verbänden, Decken und OP-Zubehör.

Verletzte werden vor dem Altar der St.-Michaels-Kirche behandelt.
Verletzte werden vor dem Altar der St.-Michaels-Kirche behandelt.

© Nina Jeglinski

Am 90. Tag der ukrainischen Proteste liegt das Epizentrum des Widerstands wieder dort, wo alles begonnen hatte: Rund um die Unabhängigkeitssäule, auf deren Spitze eine Statue einen goldenen Kranz in die Höhe hält, versammelten sich zum ersten Mal im November ein paar hundert Kiewer zum „Euromaidan“, um als Zeichen des Protests ukrainische und europäische Fahnen zu schwenken, weil ihr Präsident sich plötzlich geweigert hatte, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben.

Bewaffnet und wütend stehen sie einander gegenüber

Ein Tag, nachdem der als friedlich geplante „Marsch aufs Parlament“ der Opposition blutig eskalierte, zwei Dutzend Menschen starben, herrscht in der ukrainischen Hauptstadt ein nicht erklärter Ausnahmezustand. Bewaffnet und wütend stehen sie einander gegenüber. Die Polizisten und Sondereinheiten von Präsident Viktor Janukowitsch auf der einen Seite und jene, die seit Wochen auf dem Maidan demonstrieren, auf der anderen.

Die einen werfen Steine und Molotowcocktails, die anderen antworten mit Blendgranaten und Gummigeschossen. Von der Bühne erklingen Gebete von Priestern, andere beschwören den Durchhaltewillen der Demonstranten, und der Ruf „Kiew erhebe dich“ schallt über den Platz. Neben der Bühne bekommen sie im „Haus der Gewerkschaft“ das Feuer nicht gelöscht – die meisten Etagen sind inzwischen völlig ausgebrannt. Das Haus, direkt am Maidan gelegen, galt als das Zentrum des Widerstands, als Rückzugsort für die Aktivisten. Jetzt sitzen die Menschen vor der Brandruine und sortieren Lebensmittel, Decken und Kleidungsstücke, die sie vor den Flammen retten konnten.

Am Nachmittag stehen dann einige hundert Polizisten etwa zweitausend bewaffneten Aktivisten auf dem Maidan gegenüber. Geschäfte, Banken und Cafés im Umkreis von einem Kilometer sind geschlossen. Die Sicherheitsdienste haben einen landesweiten „Anti-Terror"-Einsatz angekündigt.

Vor dem Eingang des Hotels „Ukraina“ am oberen Ende des Platzes ruhen sich die Polizisten der Spezialeinheit „Berkut“ und die Soldaten der Truppen des Innenministeriums aus. Unter ihnen sind viele 18, 19 Jahre alte Männer, die gerade ihren Wehrdienst ableisten. In ihren rußverschmierten Gesichtern steht der Schrecken geschrieben über den Bürgerkrieg, in den sie in der vergangenen Nacht geraten sind. Die einen schlafen im Sitzen, andere liegen auf Styroporplatten, viele Uniformen tragen Spuren vom Feuer der Molotow-Cocktails. Andrej, ein 29 Jahre alter Offizier aus Lugansk, befehligt eine Einheit dieser Wehrdienstleistenden, „Srotschniki“ genannt. „Drei von uns sind mit Schusswunden ins Krankenhaus gebracht worden“, sagt er und zeigt auf die von Kugeln durchschlagenen Schutzschilder.

Die meisten Demonstranten kamen einst mit friedlichen Absichten

Sascha, 22 Jahre, aus Czernowitz, Westukraine, wurde von Splittern einer Blendgranate im Gesicht getroffen.
Sascha, 22 Jahre, aus Czernowitz, Westukraine, wurde von Splittern einer Blendgranate im Gesicht getroffen.

© Nina Jeglinski

Ginge es nach Andrej, hätten die Ordnungskräfte den Maidan am Dienstag geräumt, mit einer organisierten Attacke von allen Seiten. Das hätte viel Elend verhindern können, sagt der Offizier. Andrej klingt frustriert. Er ist seit zwei Monaten im Einsatz und hofft, dass der Konflikt so schnell wie möglich gelöst wird. „Ich kämpfe hier nicht für Janukowitsch, aber auf der anderen Seite gibt es gewalttätige Nazis, mit denen man nicht verhandeln kann.“ Andrej und seine Männer standen am Dienstag an der Schowkowitschna-Straße, die von radikalen Demonstranten attackiert wurde. Damit hatte der Gewaltausbruch begonnen.

Der Platz ist in dichte Rauchschwaden gehüllt. Phasen der Ruhe nutzen viele Protestler, um neue Steine aus den Gehwegen zu reißen und sie in Säcke zu füllen. Vor dem Vorplatz der Hauptpoststelle ist das Pflaster bereits komplett abgetragen. „Das sind Wurfgeschosse, damit verteidigen wir uns gegen die Berkut-Soldaten“, sagt Sascha. Der 22-Jährige stammt aus Winnyzja in der Westukraine. Sein Gesicht ist mit Wunden übersät, ein Auge zugeschwollen. „Ich wollte das Gewerkschaftshaus verteidigen“, sagt Sascha.

Er behauptet, dass das Haus von den Berkut-Kämpfern angegriffen worden sei. „Die haben die Geschosse hundertfach dort hineingefeuert“, sagt er. Teile einer Granate trafen Saschas Gesicht. Er habe danach noch stundenlang weitergekämpft. „Ich mache das hier alles, weil ich Ukrainer bleiben will, ich bin und werde kein Russe.“ Er wolle sich jetzt erst einmal im Sankt-Michael-Kloster behandeln lassen, aber verspricht schon mal: „Heute Abend bin ich wieder auf dem Platz.“

Pflastersteine in handlichen Brocken

Das Innenministerium bestreitet, das Feuer auf das „Haus der Gewerkschaft“ eröffnet zu haben. Es beschuldigt die ehemaligen Bewohner der Brandstiftung. Denn das Haus galt nicht nur das Pressezentrum der Opposition, sondern auch als Rückzugsort für die radikalsten Aktivisten vom „Rechten Sektor“.

Die meisten Menschen auf dem Maidan kamen einst mit friedlichen Absichten. Wie beispielsweise Anatolij Liptuga, 64 Jahre alt, Physiker von Beruf. „Ich merkte, dass mir mein Herz Probleme machte und fuhr nach Hause. Aber die ganze Nacht habe ich nicht geschlafen, sondern vor dem Fernseher gesessen“, sagt er. Liptuga und sein Freund Sergej Pjazko sehen ganz genau so aus, wie man sich zwei sowjetische Intellektuelle vorstellt. Beide tragen Schiebermützen, Vollbart und Brille.

Aber seit dem frühen Mittwochmorgen tun die beiden etwas vollkommen Unintellektuelles: Mit einer Eisenstange zerhacken sie abwechselnd Pflastersteine zu handlichen Brocken. Die Steine werden dann von einer älteren Frau in einem Sack gesammelt und an die Frontlinie getragen. „Zwei Monate lang standen wir friedlich, und das Regime hat uns gesagt: Steht doch weiter. Aber es passierte nichts“, sagt Anatolij Liptuga. Deshalb habe sich die Opposition zu dem gestrigen Marsch auf das Parlament entschlossen. Über die Aufrufe der europäischen Politiker, die Krise „im Rahmen der Gesetze“ zu lösen, könne er nur müde lächeln. „Dieses Regime werden wir mit irgendwelchen gesetzlichen Methoden nicht mehr los“, sagt er.

Während Janukowitschs Sondereinheiten und die Opposition um die Hoheit auf dem Unabhängigkeitsplatz kämpfen, hat sich das Zentrum von Kiew in eine Geisterstadt verwandelt. Es fahren kaum Autos, wenige Fußgänger sind im Zentrum unterwegs, viele Geschäfte bleiben geschlossen oder sind von ihren Besitzern sicherheitshalber leergeräumt worden. Die Metro hatte bereits in der Nacht ihren Dienst komplett eingestellt. Die offizielle Begründung der Stadt dazu lautet: „Uns liegen Informationen über einen Terroranschlag vor.“

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