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Vor 70 Jahren, am 10. Dezember 1948, wurde in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte angenommen.

© AFP

Menschenrechte: "2018 war ein Wendejahr"

Der Chef der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch über die Bedrohungen durch neue Autokraten - und warum auch die Gegenkräfte viel stärker werden.

Herr Roth, Sie präsentieren Ihren Weltbericht für das Jahr 2018 in Berlin. Weshalb?

Wir sehen in Deutschland einen entscheidenden Player in einer Zeit, in der viele, die dies bisher waren, ausfallen: In den USA regiert Donald Trump, Großbritannien ist mit dem Brexit beschäftigt, Macron in Frankreich spricht oft über Menschenrechte, liefert aber nicht.

Das werfen Sie im Bericht auch der Bundeskanzlerin vor.

Sie steht unter Druck, aber sie hat eine entscheidende Rolle gespielt. Und da Deutschland die nächsten beiden Jahre im UN-Sicherheitsrat sitzt, hat es eine Position mit echter Autorität. Da wollen wir die Bundesregierung von  Berlin aus ein bisschen zum Einsatz ermutigen.

Dass die deutsche Hauptstadt auch eine Art Tür nach Osteuropa ist, hat keine Rolle für Ihre Wahl gespielt? Immerhin nehmen Sie sich die Regierungen Ungarns und Polens als Menschenrechtsgefährderinnen in Ihrem World Report ordentlich vor.

Kenneth Roth
Kenneth Roth

© John MacDougall/AFP

Nein, das war es nicht. Aber es gibt tatsächlich ein Problem mit Europa, das sich an Ungarn und Polen festmacht.  Die EU ist eine Vorreiterin in Menschenrechtsfragen. Aber sie ist miserabel darin, sie gegen die eignen Mitglieder durchzusetzen. Wer einmal Teil des Clubs ist, muss sich an den strengen Kriterien kaum noch messen lassen. Wir glauben, dass es die nächsten Jahre darauf ankommen muss, den EU-Haushalt dafür zu nutzen. Polen ist der größte Netto-Empfänger von EU-Geld, Ungarn einer der größten pro Kopf seiner Bevölkerung. Und Deutschland wird 2020 die EU-Ratspräsidentschaft innehaben.

Sie wissen selbst, dass die EU dieses Mittel höchst zögerlich nutzt.

Sie wird es aber müssen, wenn sie Herrin ihrer existenziellen Krise werden will. Die Regierungen der beiden Länder, die ich nannte, nutzen EU-Gelder, um ihre politische Agenda umzusetzen. In Ungarn muss man sich Essen und Toilettenpapier ins Krankenhaus mitbringen, aber gleichzeitig baut Orbán riesige Fußballstadien. Die EU sollte sich diesem Problem mit sich selbst ernsthaft stellen. Orbán will sie schließlich nicht zerstören, er findet die wirtschaftlichen Vorteile einer Mitgliedschaft gut. Aber er will die EU downgraden.

Sie sprechen im Bericht von ihm und anderen als neuen Autokraten, die in demokratischem Gewand daherkommen. Sind sie schlimmer als die alten?

Sie sind anders. Traditionelle Diktatoren tragen Militäruniformen und tun nicht einmal so, als gäben sie etwas auf Demokratie. Die neuen kommen per Wahl an die Macht. Den Konsens dafür haben sie aufgebaut, indem sie verletzliche Minderheiten zu Sündenböcken für alles erklären, was schiefläuft. Einmal an der Macht zerstören sie planmäßig den Inhalt der Demokratie, die Gewaltenteilung, zivilgesellschaftliche Gruppen. Was sie wollen, ist die Form, nicht die Substanz von Demokratie. Das funktioniert weltweit so, es ist absolut vorhersehbar.

Und was lässt sich aus Ihrer Sicht dagegen machen? Sie haben das Beispiel der Kanzlerin genannt. Wer den Atem der Rechten schon im Nacken spürt, hat wenig Möglichkeiten.

Die beste Art, gegen die extreme Rechte vorzugehen, ist ihr vorzubeugen. Wer die Demokratie verteidigen will, muss anerkennen, dass Bürgerinnen und Bürger wirkliche Probleme haben. Viele hat der jahrzehntelange neoliberale Kurs der Wirtschaftspolitik abgehängt, viele auch der technische Wandel. Die Einwanderung macht die Leute auch noch kulturell unsicher. Derart verunsichert, halten sie sich leicht an den einfachen Versprechen und Erklärungen von Demagogen fest, die ihnen sagen, an allem seien  Einwanderer schuld. Die Aufgabe heißt also, die wirklichen Probleme anerkennen und lösen. Und gleichzeitig klarmachen, dass die Suche nach Sündenböcken keine Lösung ist: Auch wenn Migration auf Null gebracht würde, würde das den technologischen Wandel nicht zum Stillstand bringen. Und es würde auch die Uhr für unsere modernen Gesellschaften nicht zurückdrehen, die bereits multikulturell sind. Man muss die Mythen der Demagogen bekämpfen. Und ihnen nicht nach rechts folgen.

Sie nennen im Bericht den Namen Seehofer.

Exakt, das ging nun wirklich schief. Wie anderswo auch: Die Versuche Mark Ruttes in den Niederlanden, die Regierung Sebastian Kurz in Österreich: So etwas stärkt den rechten Rand nur. Und an Wahlausgängen wie bei Ihnen in Bayern kann man sehen, dass Appeasement nach rechts nicht hilft. Mehr noch: Es hat zur Stärkung der Grünen geführt, die nun entschieden gegen den Ausschluss von Migranten waren. Das zeigt, dass die große Mehrheit nicht wirklich Schluss machen will mit Demokratie und Menschenrechten.

Einer der Mythen, den Sie beschreiben, lautet: Ein autoritäres System ist einfach effektiver. Die schaffen, was in Demokratien jahrelang zerredet und womöglich nie verwirklicht wird.

Jetzt, da unsere Demokratien etwas desorientiert wirken, wächst die Gefahr, dass die Lösung über den starken Mann attraktiv erscheint. Nur: Autokraten lassen sich grundsätzlich nicht zur Rechenschaft ziehen. Das verführt sie zwangsläufig, nicht für ihre Länder, sondern für ihren Machterhalt Politik zu machen. Das aktuell schlagendste Beispiel ist Venezuela. Das war einmal das reichste Land in Lateinamerika. Heute hungern die Venezolaner, ihre Arbeitsplätze sind vernichtet, Arzneimittel fehlen und drei Millionen Menschen sind aus dem Land geflohen. Präsident Maduro hat die Opposition unterdrückt und den Reichtum des Landes dazu missbraucht, sich an der Macht zu halten. Die großen Ölvorräte Venezuelas sind auf Jahrzehnte an China verpfändet. Die sogenannten starken Männer sind extrem schlecht für ihre Landsleute.

China ist ebenfalls stark in Ihrem Fokus.

Ja, weil chinesisches Geld Regierungen weltweit korrumpiert und Infrastruktur in ihren Ländern baut, die oft nicht im Interesse der dort lebenden Menschen sind. Und es ist gleichzeitig ebenfalls ein Beispiel für das Unglück, das autoritäre Regime hervorbringen. Chinas vielbewunderte Wirtschaft ähnelt mehr und mehr einer Blase.

Zurück zu den starken Männern der ersten Welt. Ist die Gefahr nicht auch, dass da Dinge geschehen, die früher unmöglich waren – und damit auch wiederholbar werden? Ein US-Präsident, der Kinder einsperrt…

.. Italien, das Menschen der libyschen Küstenwache zutreibt..

.. zum Beispiel. Senken solche Praktiken in demokratischen Staaten die Standards auf lange Sicht?

Zum Glück scheint das Gegenteil einzutreten. So schrecklich das ist, was Trump an der Grenze gemacht hat: Dieses Verhalten hat eine Art Weckruf in die Welt geschickt.

Sie meinen die globale Empörung?

Nicht nur. Auch den Widerstand. Und wie erfolgreich er war. Als wir den aktuellen World Report vorbereiteten, war ich selbst überrascht, welch starke Gegenbewegung es im vergangenen Jahr auch gab – bei allem, was weiter an Schrecklichem passiert. 2018 war das Jahr eines Umschwungs, ein Einschnitt. Große Player haben das Feld verlassen. Und kleine sind gefolgt und haben den Stab aufgenommen. Wir stecken mitten in einem großen Gefecht. Und es sind nicht die üblichen Verdächtigen, die darin kämpfen, die USA, Großbritannien, Frankreich.

Zum Beispiel?

Im Fall Venezuela lässt sich sehen, dass der Auszug der USA aus dem UN-Menschenrechtsrat – das hat übrigens nie zuvor ein Staat gemacht - geradezu eine Blockade gelöst zu haben scheint.  Nie zuvor hatten die südamerikanischen Staaten einen der Ihren kritisiert, das galt als die Drecksarbeit, die niemand im US-Hinterhof übernehmen wollte. Jetzt verurteilten sie die Regierung Maduro und empfahlen einen Prozess vor dem Internationalen Strafgerichtshof ICC. Die Organisation Islamischer Staaten, die nie ein anderes Land als Israel kritisiert hatte, stellte sich jetzt gegen Myanmars Vertreibung der Rohingya und halfen dabei mit, Beweise zu sichern, so dass die Verbrechen an der muslimischen Minderheit womöglich eines Tages geahndet werden können. In Polen widerstand die Justiz, Tausende gingen auf die Straße. Und an die Stelle der großen Länder, die sich für Menschenrechte einsetzen, sind kleine und mittlere getreten, in Europa zum Beispiel Luxemburg und Belgien. Sie haben sich mit zivilgesellschaftlichen Organisationen verbündet – hier sind ein paar ganz neue Akteure aufgetaucht - es sind neue Allianzen  entstanden. 2018 war ein Wendejahr, in dem wir von Schock und Resignation zu effektiver Gegenwehr gekommen sind.

Das sagen Sie nicht nur, weil man in Ihrem Beruf Optimismus braucht?

Nein, das war wirklich zu sehen. Und das ist sehr ermutigend.

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