zum Hauptinhalt
Fluchtpunkt Europa. Nach dem Sturz des tunesischen Machthabers Zine el Abidine Ben Ali waren mehrere tausend Flüchtlinge auf die italienische Ferieninsel Lampedusa gekommen. Jetzt befürchtet die italienische Regierung eine neue Flüchtlingswelle aus Libyen.

© imago

Migranten aus Nordafrika: Die Schlepper warten schon

Nach inoffiziellen Berichten stehen bereits Dutzende, wenn nicht Hunderte von Flüchtlingsbooten für eine Überfahrt von der libyschen Küste in Richtung Lampedusa und Sizilien bereit.

Der Damm ist gebrochen. Wie das italienische Außenministerium mitteilte, sind die im Jahr 2009 eingeführten italienisch-libyschen Patrouillen vor der Küste des nordafrikanischen Staates und in den libyschen Häfen wegen der blutigen Unruhen in Gaddafis Wüstenreich am Dienstag definitiv eingestellt worden. Nach inoffiziellen Berichten stehen bereits Dutzende, wenn nicht Hunderte von Flüchtlingsbooten für eine Überfahrt von der libyschen Küste in Richtung Lampedusa und Sizilien bereit. Die professionellen Schlepper warteten nur noch auf besseres Wetter und weniger Seegang.

Nach dem Wegfall der Kontrollen erwartet Italien einen nie da gewesenen Flüchtlingsstrom. Italiens Außenminister Franco Frattini nannte der Zeitung „Corriere della Sera“ die Zahl von 200 000 bis 300 000 Migranten, die Libyen in Richtung Italien verlassen wollten. Die Prognose könnte sich noch als deutlich zu niedrig herausstellen, wie Frattini in dem Interview einräumte. Denn bei rund einem Drittel der gut sieben Millionen Einwohner Libyens handle es sich um Immigranten aus den armen Ländern südlich der Sahara, deren Ziel ebenfalls das reiche Europa sei. „Wir sprechen von zweieinhalb Millionen Menschen“, betonte der Außenminister. „Die Wahrheit ist, dass wir keine Ahnung haben, was nach einem Sturz Gaddafis passieren könnte.“

Die Aussicht auf 200 000 bis 300 000 Flüchtlinge hat Frattini als „apokalyptisch“ bezeichnet. In der Tat scheint es ausgeschlossen, dass Italien einen derartigen Ansturm aus eigener Kraft bewältigen könnte – Rom musste schon den humanitären Notstand ausrufen, nachdem bis zum 15. Februar innerhalb von wenigen Tagen über 5000 Flüchtlinge aus Tunesien auf der Insel Lampedusa gelandet waren. Der italienische Innenminister Roberto Maroni stellte sich damals auf den Standpunkt, dass dieser „Exodus biblischen Ausmaßes“ kein rein italienisches Problem darstelle, sondern ein gesamteuropäisches.

Mit dieser Meinung steht Maroni nicht allein. Angesichts der nun erwarteten noch viel dramatischeren Flüchtlingswelle aus Libyen haben sich in Rom am Mittwoch die Innenminister der anderen EU-Mittelmeeranrainerstaaten Frankreich, Spanien, Griechenland, Malta und Zypern getroffen, um ihre Haltung und ihre Forderungen im Hinblick auf das heute in Brüssel stattfindende Treffen der EU-Innen- und Justizminister abzustimmen, bei dem ebenfalls über die Flüchtlingsproblematik diskutiert werden soll. Die Position Italiens ist klar: Die bereits in Aussicht gestellten Finanzhilfen und ein Einsatz der EU-Grenzschutzagentur Frontex im Mittelmeer sind schön und gut – aber nicht das Kernanliegen.

Italien fordert vielmehr eine Verteilung der ankommenden Menschen auf alle EU-Partnerländer. In Rom sieht man nicht ein, warum man sich alleine um die Flüchtlingsmassen kümmern soll, nur weil Lampedusa zufälligerweise näher an der nordafrikanischen Küste liegt als zum Beispiel Sylt. Das Argument, andere EU-Staaten hätten in den letzten Jahren weit mehr Asylbewerber aufgenommen als Italien, lässt Rom nicht gelten: Bei den Flüchtlingen handle es sich gar nicht um Menschen, die in Italien Asyl beantragen wollten. Tatsächlich hat kaum einer der tunesischen Flüchtlinge einen Asylantrag gestellt, der ihn nach dem sogenannten Dublin-II-Abkommen verpflichtet hätte, in Italien zu bleiben. Die jungen Tunesier wollen weiter nach Frankreich, nach Deutschland, in den Norden, wo die Jugendarbeitslosigkeit nicht wie in Italien beinahe 30 Prozent beträgt.

Die bisherige Weigerung Deutschlands und anderer EU-Länder, eine Verteilung der Flüchtlinge auch nur in Betracht zu ziehen, belegt die ambivalente Haltung dieser Staaten in der Flüchtlingsfrage: Zwar fand man die offen zu Schau getragene Männerfreundschaft zwischen Silvio Berlusconi und Muammar al Gaddafi befremdlich und die Anbiederung des italienischen Regierungschefs an den libyschen Despoten beschämend. Aber man war heilfroh über den bilateralen „Freundschaftsvertrag“ der beiden Länder vom August 2008, welcher den Flüchtlingsstrom aus Libyen nach Europa praktisch zum Versiegen gebracht hatte. Und man schloss auch beide Augen vor den krassen Menschenrechtsverletzungen, die Ghaddafi bei der Anwendung des Abkommens anwendete. Man wusch die eigenen Hände im Norden der EU ja in Unschuld.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false