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Politik: Militäraktion in der Türkei: Menschenverachtung auf beiden Seiten

Das Gesicht der Frau war unter der dicken weißen Brandsalbe kaum zu erkennen, ihr Haar versengt. "Die haben uns angezündet", rief sie den Journalisten zu, als sie zur Behandlung ins Krankenhaus geführt wurde.

Das Gesicht der Frau war unter der dicken weißen Brandsalbe kaum zu erkennen, ihr Haar versengt. "Die haben uns angezündet", rief sie den Journalisten zu, als sie zur Behandlung ins Krankenhaus geführt wurde. Die Verletzte gehört zu den links gerichteten Häftlingen des Istanbuler Hochsicherheitsgefängnisses Bayrampasa, das von Soldaten und Polizisten gestürmt wurde, um den Hungerstreik der Insassen zu beenden. Drei Tage nach dem Auftakt der Militäraktion gegen insgesamt 20 türkische Gefängnisse, wird die Frage lauter, ob die Opfer unter den Häftlingen tatsächlich durch Selbstverbrennung starben, wie die Behörden es darstellen, oder von Soldaten und Polizisten getötet wurden, wie überlebende Häftlinge behaupten. Eine Antwort wird es auf absehbare Zeit vermutlich nicht geben, denn beide Parteien geben der jeweils anderen die Schuld am Tod der vielen Menschen - und keine der beiden Seiten ist über den Verdacht der Menschenverachtung erhaben.

Am Donnerstag gelang es den Einsatzkräften, auch im Gefängnis von Canakkale in der Westtürkei den Widerstand der Häftlinge zu brechen. Auch hier soll es nach Fernsehberichten Tote und Verletzte geben haben. Damit ist nur noch das Istanbuler Gefängnis Ümraniye in der Hand der Aufständischen.

Die Sicherheitskräfte sehen sich nicht erst seit den jüngsten Ereignissen einem tiefen Misstrauen in der Gesellschaft gegenüber. Schließlich starben bereits im vergangenen Jahr beim Sturm auf das Ulucanlar-Gefängnis der Hauptstadt Ankara zehn Häftlinge unter bis heute nicht geklärten Umständen. Diesmal fallen vor allem Ungereimtheiten bei der Opferbilanz auf. So sagte ein Anwalt der Häftlinge, allein aus dem Gefängnis Bayrampasa seien 15 Leichen ins Leichenschauhaus gebracht worden - obwohl die Behörden nur von 12 Todesopfern in dieser Haftanstalt sprechen. Angaben aus Regierungsquellen, wonach die Aktion in den Gefängnissen bereits seit einem Jahr geplant wurde, verstärken den Eindruck, dass bei der Operation "Rückkehr ins Leben" nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist - denn die Hungerstreiks, gegen die sich die Intervention offiziell richtete, begannen erst vor zwei Monaten.

Kritiker mutmaßen, dass die Regierung die Hungerstreiks lediglich zum Anlass nahm, um die politischen Häftlinge des Landes in neue Hatanstalten mit Zellen des so genannten F-Typs stecken zu können, die von den Gefangenen so erbittert abgelehnt werden. Im Gegensatz zu den bisher üblichen Schlafsälen mit bis zu Hundert Insassen, sind diese neuen Zellentypen wesentlich kleiner und ermöglichen eine bessere Kontrolle der Gefangenen. Doch nicht nur die Regierung sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, Dunkles im Schilde zu führen. Die türkische Regierung veröffentlichte den Mitschnitt eines abgehörten Handy-Telefonats zweier Häftlinge zu Beginn der Stürmung. "Bevor die uns kriegen, verbrennen wir uns alle", soll ein Häftling dabei gesagt haben. Anhänger der linksextremen Gruppe DHKC, die den Hungerstreik lenkte, geben offen zu, dass die Selbstverbrennung der als Märtyrer bezeichneten Häftlinge geplant war.

Die DHKC kann bei Einführung des "F-Typs" nur verlieren, denn nur in den großen Zellen kann sie ihre Macht über inhaftierte Mitglieder aufrecht erhalten. Sie versorgt die Gefängnisinsassen nicht nur mit Handys, sondern auch mit Benzin und Waffen. Deshalb wehrt sich die türkische Regierung auch gegen den Vorwurf, bei dem Gewalteinsatz in den Gefängnissen mit unverhältnismäßigen Mitteln vorgegangen zu sein.

Ob die Operation "Rückkehr ins Leben" in Wirklichkeit ein Hinrichtungs-Kommando war, wird deshalb so bald nicht geklärt werden können. Doch eines steht fest: In der Türkei wächst der Unmut über die allgegenwärtige Gewalt im Land. "Diese Gesellschaft hat es satt, dass jedes Problem zur Krise eskaliert und mit Gewalt und Blutvergießen endet", kommentierte die liberale Zeitung "Yeni Binyil".

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