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Morde in Türkei: "Den Fanatikern das Feld überlassen"

Nach dem Mord an christlichen Bibelverlegern ist die Türkei über die Brutalität entsetzt. Die Hetze gegen "Missionare" wirft zudem einen Schatten auf die türkischen EU-Ambitionen.

Istanbul - Die Grausamkeit, mit der den drei christlichen Mitarbeitern eines kleinen Bibelverlags - an Händen und Füßen gefesselt - die Kehlen durchschnitten wurden, schockiert. "Der Alptraum geht weiter", "Wieder dasselbe Unheil", "Größter denkbarer Landesverrat - Teil zwei", lauten Schlagzeilen türkischer Zeitungen.

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan spricht von einem "Akt der Grausamkeit". Außenminister Abdullah Gül verurteilt den Anschlag aufs Schärfste. "Unbehagen" bereitet ihm, "dass das Ansehen unseres Landes im Ausland beschädigt wird". Noch einen Tag vor dem Verbrechen hatte Gül einen ehrgeizigen "Fahrplan" vorgestellt, mit dem die Türkei bis 2014 für einen EU-Beitritt fit sein soll. Die Christenmorde im fernen Malatya im Südosten des Landes - Heimat sowohl des Papstattentäters Ali Agca als auch des ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink - werfen einen dunklen Schaffen auf die EU-Ambitionen der Türkei.

Weit verbreitete Propaganda

Was erschwerend hinzu kommt: Propaganda gegen christliche "Missionare", denen "Aufhetzung" mit dem Ziel einer "Spaltung" des Landes vorgehalten wird, ist in der Türkei weit verbreitet - und nicht allein auf islamistische oder ultranationalistische Kreise beschränkt. Höchste Stellen - nicht nur das Amt für religiöse Angelegenheiten - verfolgen seit Jahren mit Sorge die "wachsenden Umtriebe" christlicher Missionare.

Die Handelskammer von Ankara listete in einem Bericht neben Buchhandlungen und Zeitschriften "mehr als 300 Kirchen" und Vereine auf, die sich angeblich missionarischen Aktivitäten verschrieben haben - darunter auch eine protestantische Freikirche (Kurtulus Kilisi) mit Sitz in Ankara. Die Kirche hat kleine Gemeinden in Adana und Malatya. Einer der ermordeten Mitarbeiter des Bibelverlags war in der Stadt als "Pastor" bekannt, Vorsteher einer Gemeinde von knapp zwei Dutzend Mitgliedern.

"Hürriyet": Türkei trägt kollektive Verantwortung

"Von jetzt an sind wir alle in Gefahr", befürchtete am Tag nach den Morden Ahmet Güvener, Pastor einer protestantischen Kirche in der südosttürkischen Großstadt Diyarbakir. "Auch auf uns wird mit Fingern gezeigt, auch wir werden der Missionarstätigkeit bezichtigt." Dabei gehe es den Mitgliedern seiner Kirche allein um die freie Ausübung ihres Glaubens. "Wenn wir Mission betreiben, sollen sie es beweisen und uns vor Gericht stellen", sagte Güvener der Zeitung "Sabah".

Für gesellschaftskritische Beobachter waren die Morde von Malatya nicht nur schockierend, sondern auch vorhersehbar. "Wenn sie die Mörder sind, so gab es viele Anstifter", schrieb der Chefredakteur der türkischen Zeitung "Hürriyet", Ertugrul Özkök. "Wir haben den mit Messern bewaffneten Fanatikern das Feld überlassen, einige von uns, indem sie aufgehetzt haben, einige mit ihrem Schweigen, einige mit aktiver Unterstützung, einige mit passiver Begriffsstutzigkeit". Sein Fazit: "Für das, was in Malatya passiert ist, hat die Türkei eine kollektive Verantwortung". (Von Ingo Bierschwale, dpa)

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