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Moskauer Zeitenwende: Die russische Zivilgesellschaft will nicht mehr schweigen

Geht ihr shoppen, wir erledigen den Rest!, umwarb der Kreml lange die Bürger. Doch die wollen jetzt selbst mitreden – und von Wladimir Putin nichts mehr hören.

Um drei Uhr nachmittags Moskauer Zeit geht in Russland eine Epoche zu Ende. All die Einschüchterungsversuche der Kreml-Medien, die Hackerattacken auf die unabhängigen Medien, die Festnahmen bei den ersten Demonstrationen nach den Parlamentswahlen vergangenen Sonntag, jene Arroganz, mit der Wladimir Putin und Dmitri Medwedew ihnen zuletzt begegneten, all das konnte sie, die Unzufriedenen, nicht aufhalten. Die russische Zivilgesellschaft, die lange geschwiegen oder ihre Wut im Internet ausgelebt hat, ist erwacht.

Sie strömte von allen Seiten zur „Bolotnaja“, auf eine kleine Insel im Moskwa-Fluss, keinen Kilometer entfernt von den Mauern des Kreml. Sie trägt Plakate und weiße Bänder – das Symbol all jener, die für gerechte Wahlen eintreten. Orangefarbene Fahnen der liberalen Bewegung „Solidarnost“ wehen im kalten Wind, kommunistische rote Fahnen und die gelb-weiß-schwarzen Banner der Nationalisten. „Wenn wir einig sind, sind wir unbesiegbar“, klingt ihre Stimme über den Platz, es ist jener Spruch, der 2004/2005 in der Ukraine zur Hymne der Revolution wurde. Hier im Schneetreiben stehen an diesem Samstag sehr verschiedene Menschen, zehntausende sind es, und alle haben es satt, von ihrem Regime für dumm verkauft zu werden.

Da sind die Kumpel Alexej, Maxim und Daniil, Anfang 20, aus einem Vorort Moskaus. „Wir haben einen Staat, der die Demokratie verrät“, sagt Alexej. „Wir kennen keinen Einzigen, der vergangenen Sonntag für ,Einiges Russland’ gestimmt hat – und dann bekommt die Partei bei uns im Wahllokal 57 Prozent“, empört er sich. „Wir haben die Schnauze voll davon, dass die Fernsehkanäle über die Demonstrationen erzählen, dass dort nur Vollidioten hingehen“, sagt er. Das heute sei ein gemeinsamer Protest all jener, die in einem besseren Land leben wollen.

Und deshalb stehen hier auch „Veteranen“ der russischen Demokratiebewegung: Georgij Grischkow, 56, sieht etwas verbittert aus. 1991, während des Putsches der Kommunisten, habe er das Weiße Haus, den Moskauer Regierungssitz, verteidigt, sagt er. „Ich habe Jelzin an die Macht gebracht“, er zeigt zum Beweis seinen Ausweis: „Bund der Verteidiger des Weißen Hauses“ steht darauf. Aber nun will auch er die Lügen der Regierung nicht mehr hören. Dass es so vielen so geht, lässt ihn für Putin und Medwedew ahnen: „Das Ende ist nah.“

Die Russen kündigen in diesen Tagen jene stille Vereinbarung mit Putin, die lautete: Kauft euch Autos, iPhones, fahrt in Urlaub in die Türkei – aber haltet euch aus der Politik heraus. Jene knapp 50 Prozent, die die Kreml-Partei „Einiges Russland“ angeblich bei den Duma-Wahlen erhielt, sie haben jener Mittelschicht, die in den vergangenen Jahren konsumierte und den Ärger über die Aushöhlung der Demokratie herunterschluckte, den Kragen platzen lassen. Es ist viel die Rede von Würde dieser Tage, in den Social Networks, in Blogs, und auf den Demonstrationen. Von der Würde, die man sich wieder zurückholen müsse. Und nicht nur in Moskau holen die Menschen sich die Würde zurück: In vielen Städten des Landes gehen die Menschen am Samstag auf die Straße, von Wladiwostok bis zur Kleinstadt Kaluga bei Moskau. Mal sind es einige hundert, mal tausende. Aber anders als in Moskau wird etwa in Kaluga die Organisatorin verhaftet.

Unter den Moskauer Demonstranten gibt es jene, die immer gegen das System Putin waren, aber es stehen hier auch die Desillusionierten, für die erst der 24. September das Ende aller Hoffnung war: Da war der Parteitag der Kreml-Partei „Einiges Russland“, auf dem Dmitri Medwedew ohne Angabe von Gründen bekannt gab, nicht mehr für das Amt des Präsidenten zu kandidieren und es wieder an Putin zu übergeben. Medwedew, der so gern von Freiheit sprach, von Modernisierung, der für ein anderes Russland stand. Dass das alles nur Schein war, war für Menschen wie Sergej Schugajew eine riesige Enttäuschung. Er sagt: „Das Regime hat uns ins Gesicht gespuckt, hat uns gezeigt, dass wir niemanden wählen, sondern dass alles dort oben bestimmt wird.“

Auf der winzigen Bühne beginnen derweil die Reden jener, die versuchen, das Auseinanderfallen der Masse zu verhindern: Ilja Ponomarjow, ein junger Duma- Abgeordneter der Partei „Gerechtes Russland“ steht da, Sergej Mitrochin, Vorsitzender der liberalen „Jabloko“-Partei, die Ökoaktivistin Jewgenija Tschirikowa. Aber auch der Schriftsteller Boris Akunin will sprechen, ja selbst das Glamourgirl Ksenia Sobtschak. Sie schimpfen auf das Regime, auf das staatliche Fernsehen, sie verlangen die Freilassung der politischen Gefangenen, aber vor allem fordern sie Neuwahlen. „Perewybory, Perewybory“, schallt es deshalb aus Tausenden von Kehlen, und immer wieder „Pasor, pasor“, „Schande“ über jene, die das Volk am vergangenen Sonntag betrogen haben, allen voran: Wladimir Putin.

Einer der stärksten Momente ist es, als ein Redner die Menschen auffordert, sich in Richtung des Kreml zu drehen und dem Regime zu sagen, was sie von ihm halten. Da drehen sich tatsächlich Zehntausende zu den Turmspitzen mit den roten Sternen und schreien „Gauner und Betrüger, Gauner und Betrüger“. Der wichtigste Mann aber, fast schon Symbolfigur dieser erwachenden Gesellschaft, die sich auf Facebook und Twitter zum Protest verabredet, fehlt. Der Rechtsanwalt und Blogger Alexej Nawalny, der die Beamten des Landes mit seinen Antikorruptionskampagnen zum Wahnsinn bringt, der den Slogan „Einiges Russland – Partei der Diebe und Gauner“ popularisiert hat, er sitzt seit Montagabend im Gefängnis, verurteilt zu zwei Wochen Haft.

Langsam wird es dunkel in Moskau, es ist, anders als bei anderen Demonstrationen der vergangenen Jahre, friedlich geblieben. Die Polizisten und die Spezialtruppen haben ihre Knüppel stecken lassen. Die Menschen machen sich auf den Heimweg. Hoffend, dass das Regime gesehen hat, was sie gesehen haben. Dass es nicht mehr weitermachen kann wie bisher. Dass etwas passiert ist in dem Land, das nicht nur denen da oben gehört.

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