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Die britische Premierministerin Theresa May beim EU-Gipfel in Brüssel diese Woche.

© Toby Melville/REUTERS

Nach dem EU-Gipfel: Den Brexit kann man nicht üben

Die Europäische Union und besonders Deutschland sollte mit den Briten mehr Geduld haben. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Ganz egal, ob es nun einen wohlgeordneten Austritt Großbritanniens aus der EU geben wird oder einen harten Schnitt, der auf beiden Seiten nur sehr langsam verheilende Wunden hinterlässt – Brexit heißt Exit. Hinterher wird nichts mehr sein wie vorher. Daran wird auch die beeindruckende Demonstration der Remain-Befürworter vom Samstag vermutlich nichts ändern. Natürlich ist der 30. März 2019 nicht das Datum des bevorstehenden Weltuntergangs. Aber zumindest auf der nordwestlichen Seite des Ärmelkanals stolpern viele Politiker hoch erhobenen Hauptes in eine ungewisse Zukunft und leben in der Illusion, sie kehrten aus einer erfolgreich geschlagenen diplomatischen Schlacht heim in eine glorreiche neue Zeit.

Dieses Hineinstolpern in die Ungewissheit ähnelt schon dem Auftritt jener Schlafwandler, als die der australische Historiker Christopher Clark die Akteure auf dem Kontinent im Morgengrauen des Ersten Weltkrieges beschrieben hat – prall vor Selbstbewusstsein, blind gegenüber den Gefahren, siegesgewiss, und doch blank jeder kühlen Berechnung dessen, was geschehen könnte.

Die Versprechung der Brexiteers waren Luftbuchungen

Natürlich ist der Brexit nicht der Beginn eines Krieges, aber eines Handelskrieges wohl schon. Längst kann, längst muss jeder wissen, dass die von den Brexitbefürwortern im Juni 2016 propagierten gewaltigen Ersparnisse als Resultat des EU–Austritts eine Luftbuchung waren. Die Politiker, die mit solch wolkigen Versprechungen den unwissenden Wählern den Kopf verdrehten, haben sich in die Büsche geschlagen. Auch sie gehören zu den Schlafwandlern.

Und während die EU der 27 ziemlich nüchtern die Szenarien durchgeht, nach denen sich die Ablösung Britanniens von Europa abspielen könnte, herrscht vor allem bei den britischen Konservativen und in der Umgebung von Theresa May totale Ratlosigkeit. In den nächsten zwei Wochen muss die Regierungschefin den Haushalt durch das Parlament bringen. Bekommt sie dafür keine Mehrheit, wird sie die Vertrauensfrage stellen müssen. Dass sie die jedoch verliert, gilt als unwahrscheinlich. Die Konservativen haben, das ist die Folgerung aus aktuellen Meinungsumfragen, kein Interesse an Neuwahlen. Auch ein anderer Kandidat für das Amt des Premiers wird sich kaum finden – wer wollte schon in einer so verfahrenen Situation die Verantwortung übernehmen?

Wahrscheinlicher ist, wenn überhaupt, ein Sturz Mays nach dem 29. März, nach dem vollzogenen Brexit. Aber will eine Mehrheit des Parlamentes überhaupt für das Verlassen der EU votieren? Kenner der Situation sagen: Nein. Im Parlament gibt es keine klaren Fronten, genauso wenig wie in der Bevölkerung. Ein neues Referendum könnte ausgehen wie das erste, oder genauso knapp für „remain“, für Verbleiben in der Union. Aber ein klares Votum im Unterhaus könnte Theresa May erzwingen. Am 21. Januar 2019 nämlich wird sie, so die Beschlusslage, dem Unterhaus die Entscheidung abverlangen, falls die Regierung bis dahin keine einheitliche Haltung gefunden hat: Ja oder Nein zum Austritt aus der EU zu sagen.

Zu Grenzkontrollen zwischen Nordirland und Irland darf es nicht kommen

Auch wenn die EU sich über Zeitdruck beklagt und über unnötige Doppelarbeit – schließlich müssen mehrere Alternativen durchgeplant werden - die Briten werden sich jede Zeit nehmen und ihre Möglichkeiten ausreizen, auf diesem Wege doch noch ein partielles Nachgeben der 27 EU-Staaten zu erreichen. Die Bereitschaft seitens der Europäer und ihres Verhandlungsführers Michael Barnier besteht ja. Keiner will, nur ein Beispiel, Grenzkontrollen zwischen Nordirland und Irland. Jeder Uniformierte dort würde Ziel von Terroranschlägen. Damit aber wäre die Frieden stiftende Wirkung des Karfreitagsabkommens von 1998 zerstört – dazu darf es nicht kommen.

Wir brauchen Geduld. Schließlich hat niemand Erfahrungen mit dem Austritt eines Landes aus der EU. Die Deutschen sollten sich über den Zeitverzug am wenigsten beklagen. Sie verloren, durch die lange dauernde Regierungsbildung, mehrfach Einflussmöglichkeiten. Eine entscheidungsfähige Bundeskanzlerin wäre schnell nach der Wahl 2017 dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron wie auch Theresa May eine vielleicht hilfreiche Gesprächspartnerin und Vermittlerin gewesen. Während die deutsche Diktion in der Griechenlandkrise oft die eines Oberlehrers war, schwieg die Bundesregierung in der Brexitdebatte. Politik und Wirtschaft delegierten die Verhandlungskompetenz nach Brüssel. Vielleicht war diese Zurückhaltung klug. Vielleicht aber hatte auch sie etwas Schlafwandlerisches. Denn gerade Deutschland müsste, schon aus Gründen der innereuropäischen Balance, ein größeres Interesse daran haben, einen so starken Partner wie die Briten in der EU zu halten.

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