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Nach dem schweren Erdbeben: Sturm der Verzweiflung auf Haiti

Sechs Monate nach dem Erdbeben kommt der Wiederaufbau Haitis kaum voran. Die Geduld der Haitianer geht zur Neige - nun droht Gewalt.

Vergibt Haiti die Chance auf den Wiederaufbau, für den die internationale Gemeinschaft zehn Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt hat? Die Frage ist sechs Monate nach dem Beben aktuell und politisch unbequem. Doch nicht nur viele der 1,3 Millionen Obdachlosen, die noch immer unter prekären Umständen in 400 Zeltstädten und Notunterkünften leben, stellen sie. Aufgeworfen hat sie auch der US-Senatsausschuss für Auswärtige Angelegenheiten. In einem Bericht zur Lage in Haiti kommen die Parlamentarier zu dem ernüchternden Schluss, es gebe nur wenige Fortschritte. „Mangelnde politische Führung der haitianischen Regierung, generelles Chaos und Meinungsverschiedenheiten der Geberländer“, sind demnach dafür verantwortlich, dass der Wiederaufbau stagniert. Während die Regenzeit bereits eingesetzt habe und täglich sintflutartige Regenfälle über das Karibikland niedergingen, steckte das Baumaterial beim Zoll fest oder werde der Bau von Notunterkünften durch Landkonflikte verzögert, so ein Beispiel. Helfer kritisieren allerdings auch die zögerliche Einhaltung der internationalen Hilfszusagen. „Bisher ist nur ein Bruchteil der zugesagten zehn Milliarden Dollar bereitgestellt worden“, so der Generalsekretär der deutschen Welthungerhilfe, Wolfgang Jamann.

Die Schwierigkeiten, über die sich auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon besorgt zeigte, haben einen gefährlichen Nebeneffekt: Die Geduld der Haitianer geht zur Neige. „Aba Okipasyon“ – „nieder mit der Besatzung“ ist inzwischen schon auf Graffiti zu lesen. Die latente Ausländerfeindlichkeit könnte in Gewalt umschlagen. Eine brenzlige Situation, denn mit dem Beben ist auch der haitianische Staat praktisch zusammengebrochen. Derzeit garantieren 9000 Blauhelm-Soldaten der UN die öffentliche Sicherheit.

Hilfsorganisationen (NGO) beklagen hinter vorgehaltener Hand, die Regierung interessiere sich mehr für Prestigeprojekte wie den Wiederaufbau des zerstörten Präsidentenpalasts als für die Bürger. In der Tat lastet die Versorgung der Obdachlosen weiterhin vor allem auf den Schultern der Hilfsorganisationen wie dem Welternährungsprogramm. „Haitis Regierung ist überwältigt von der Mammutaufgabe“, sagt Matthias Schmale von der Internationalen Vereinigung von Rotem Kreuz und Rotem Halbmond. „Die Menschen sind wütend und verzweifelt, die Spannungen und Ängste werden immer unerträglicher. Bei jedem Sturm müssen die Vertriebenen ihre Zeltplanen festhalten, und die Zuteilung von Bauplätzen kommt nicht voran“, konstatiert die Organisation Ärzte ohne Grenzen. Auch die Welthungerhilfe „verlangt von der haitianischen Regierung eine schnelle Klärung der Landbesitzverhältnisse“, wie es in einer Erklärung heißt. Noch immer stehe nicht fest, wo Übergangssiedlungen gebaut werden sollten.

Die Regierung macht Grundstücksspekulanten für den schleppenden Prozess verantwortlich und forderte – mit dem Rückhalt der Karibikstaaten (Caricom) – die UN auf, die vielen NGO zu koordinieren und für Ordnung zu sorgen. Die NGO untergraben nach Auffassung der Caricom die Autorität des haitianischen Staates. Premierminister Jean-Max Bellerive hält den Bericht des US-Senats für „einseitig und veraltet“. Die Kommission für den Wiederaufbau arbeite und habe Projekte verabschiedet, der Wiederaufbau-Fonds unter der Verwaltung der Weltbank funktioniere ebenfalls. Fortschritte gebe es vor allem in den Provinzen, weil die Regierung beabsichtige, das Land mehr zu dezentralisieren. In der Tat trat die Kommission unter Leitung von Bellerive und dem ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton Mitte Juni erstmals zusammen und besprach diverse Projekte. Deren Ausschreibung muss aber den Anforderungen der UN gehorchen und dürfte frühestens Ende des Sommers fertig sein.

Aus Sicht vieler Beobachter stellt die politische Führung jedoch das eigentliche Problem dar. Haiti ist das korrupteste Land der westlichen Hemisphäre, entsprechend niedrig ist das Vertrauen, das der Regierung von Präsident René Préval entgegengebracht wird. „Aba Préval“, nieder mit Préval, forderten tausende Demonstranten unlängst. Das weckt Erinnerungen an Proteste und Gewaltausbrüche der Vergangenheit. Eine Alternative zu Préval ist nicht in Sicht. Stattdessen haben zwei umstrittene Figuren aus ihrem Exil das Terrain sondiert: Jean-Bertrand Aristide und Jean-Claude „Baby Doc“ Duvalier.

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