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Nach der Revolution: Islamisten in Tunesien warten geduldig ab

Die Islamisten wissen, dass sie diese Revolution nicht ausgelöst oder getragen haben. Dennoch könnten sie eine starke politische Kraft werden.

Die Familie von Salim bin Mohamed Habib marschiert mitten in der Menge der Demonstranten, die sich täglich in Tunis zusammenfinden. Zwischen den Studenten in Turnschuhen, den Frauen mit gelockten Löwenmähnen fällt sie auf: zwei schwarz verschleierte Frauen in bodenlangem Mantel, ein Mann mit kurz geschorenem Bart und dem Ansatz eines Gebetsflecks auf der Stirn. Dies deutet darauf hin, dass die Familie sehr religiös ist. Der Mann hält ein selbst gemaltes Plakat in die Höhe mit dem Foto seines Sohnes Salim, der seit fünf Jahren im Gefängnis sitzt: „Salim wurde nach dem Gebet, als er aus der Moschee kam, festgenommen wegen ,terroristischer Umtriebe’“, erzählt Mohamed Habib. „Mein Sohn hat sein Ingenieurstudium in Sfax mit Bestnoten beendet“, unterstreicht er wie zum Bewies dafür, dass alle Vorwürfe gegen seinen Sohn erfunden sind. „Wir wollen Freiheit, Demokratie und die Freilassung aller politischen Gefangenen und unseres Sohnes, mehr nicht“, sagt der Vater.

Religiös orientierte Kräfte verzichten in Tunesien bisher auf eigene Demonstrationen und eigene Slogans. Die seit Jahren unterdrückte islamistische Bewegung, die einst in der Partei „En-Nahda“ organisiert war, hält sich mit spezifisch islamistischen Forderungen zurück. Die Islamisten wissen, dass sie diese Revolution nicht ausgelöst oder getragen haben. Ihr Anführer im Londoner Exil, der 69-jährige Rashid Ghannouchi, hat sich denn auch realistisch gezeigt und verkündet, dass er nicht für die Präsidentschaft kandidieren werde. Er wünsche sich einen Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Demokratie. Dazu gehört für ihn freie Religionsausübung ohne Überwachung und ein Ende der Diskriminierung bekennender Muslime im öffentlichen Dienst. Bisher wurden alle Moscheen von Polizisten bewacht, die weniger die Gläubigen schützten als schauten, wer kommt und was gepredigt wurde. Die Übergangsregierung hat diese Überwachung beendet.  Und so mussten die Imame beim ersten Freitagsgebet seit dem Sturz von Präsident Ben Ali den Despoten nicht mehr in ihr Gebet einschließen, sondern durften stattdessen der Opfer der Revolte gedenken.

Interessanterweise scheinen auch westlich orientierte Tunesier und Frauenrechtlerinnen keine Angst vor den Islamisten zu haben. „Sie müssen eine Partei gründen dürfen wie andere auch“, sagt die 27-jährige Dozentin Amina Azouz bei einem Treffen ihrer Facebook-Gruppe. Diese Meinung teilt auch Boshra Belhaj Hamida, eine Anwältin, die jahrelang die Vereinigung „Demokratische Frauen“ geleitet hat. Jahrelang habe man den Tunesiern eingebläut, dass nur das repressive Regime Ben Alis das Land vor den Islamisten schützen könne. Das sei falsch und ein Vorwand gewesen. „Wir können sie nicht verbieten, denn sie existieren. Daher werden wir ihre Ideen bekämpfen, weil sie unserer Vision eines modernen Tunesien entgegenstehen.“ Das sei eine Herausforderung, weil die Islamisten „sich ungefähr einig sind über ihr Ziel“. Die Verfechter von Laizismus und Demokratie dagegen „diskutieren stundenlang über jeden einzelnen Satz“, weiß sie aus ihrer Vereinsarbeit. Hamida ist sich aber sicher, dass es den Islamisten nicht gelingen wird, das Familienrecht dem Staat zu entziehen und Religionsgemeinschaften zu unterstellen. „Das haben sie 1985 versucht und sind gescheitert. Mit den tunesischen Frauen ist das nicht zu machen“, ist sie sich sicher. Dabei schätzt Hamida das Wählerpotenzial der Islamisten größer ein als andere – auf bis zu 30 Prozent.

Auch der umstrittene Premierminister Mohammed Ghannouchi scheint die Islamisten als politische Kraft ernst zu nehmen. Der Generalsekretär der bisher verbotenen „En-Nahda“-Partei, Ali Larayedh, erzählte der „New York Times“, dass der Premier ihn angerufen habe, um ihm zu versichern, dass große Veränderungen bevorstünden und man ihm vertrauen solle. Mit anderen Worten: Man solle bitte nicht gegen die Übergangsregierung demonstrieren. Auf einen solchen Aufruf hat der Exil-Chef der Islamisten, Rashid Ghannouchi, zwar verzichtet, aber die Regierung seines nicht verwandten Namensvetters lehnt er dennoch ab.

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