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Geste der Versöhnung. Intellektuelle und Aktivisten gedenken in Istanbul erstmals öffentlich der Opfer des Massakers an Armeniern im Jahre 1915. Foto: AFP

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Politik: Nein aus höherem Interesse

In der Türkei wird erstmals öffentlich des Armenier-Massakers gedacht – doch zwischen den beiden Ländern stockt die Aussöhnung

Es gibt historische Momente, die keine Pauken und Trompeten brauchen. Als sich am Samstagabend mehrere hundert Menschen schweigend auf dem Pflaster am Taksim-Platz in der Innenstadt der türkischen Metropole Istanbul niederließen, schrieben sie Geschichte. Zum ersten Mal seit dem Massenmord an den Armeniern vor 95 Jahren fand auf türkischem Boden eine öffentliche Gedenkveranstaltung für die Opfer der Massaker statt. „Dieser Schmerz ist unser Schmerz, unsere gemeinsame Trauer“ stand in weißer Schrift auf einem schwarzen Transparent, das in der Mitte der sitzenden Demonstranten lag, umgeben von roten Nelken und brennenden Kerzen. Das Istanbuler Signal kam ausgerechnet zu einer Zeit, in der die politische Annäherung zwischen der Türkei und Armenien ins Stocken geraten ist.

Die Armenier seien „unsere Nachbarn, unsere Gefährten in schlechten Zeiten gewesen“, hieß es in dem Aufruf von rund 70 Intellektuellen zu der Kundgebung. „Am 24. April 1915 wurden sie festgenommen. Wir haben sie verloren. Sie sind nicht mehr da.“ Es sei ein guter Tag für die Türkei gewesen, sagte der Politologe und Mitorganisator Cengiz Aktar nach dem friedlichen Ende der Gedenkveranstaltung dem Tagesspiegel. „Ein weiter Teil des Tabus ist gebrochen.“

Fast noch erstaunlicher als die Veranstaltung selbst war die Tatsache, dass die türkische Polizei die Demonstranten schützte. Noch vor wenigen Jahren hätten die Kundgebungsteilnehmer Strafprozesse wegen Beleidigung des Türkentums riskiert. Die Erinnerung an diese Zeiten war am Samstag deutlich spürbar. Auf dem schwarzen Transparent am Taksim klebte ein Foto von Hrant Dink: Der armenisch-türkische Journalist hatte eine Aufarbeitung des dunkelsten Kapitels der türkischen Geschichte gefordert und war dafür 2007 von Nationalisten erschossen worden. Nun bildeten Polizisten einen Riegel um die Gedenkveranstaltung und hielten nationalistische Störer fern. Auch am Bahnhof Haydarpasa am asiatischen Ufer Istanbuls erinnerten türkische Menschenrechtler an armenische Opfer. Es gab erhitzte Debatten mit Gegendemonstranten, darunter einem türkischen Ex-General, die an die türkischen Opfer armenischer Extremisten erinnerten.

Nicht nur die Istanbuler Kundgebungen erregten den Zorn türkischer Nationalisten. Sie regten sich auch darüber auf, dass in Armenien bei Gedenkveranstaltungen türkische Fahnen verbrannt wurden. Kurz zuvor hatte die Regierungskoalition in Eriwan die Ratifizierung von Vereinbarungen zur Normalisierung der Beziehungen mit Ankara gestoppt. Die 2008 begonnene Annäherung zwischen beiden Ländern kommt damit vorerst zum Stillstand.

Die armenische Entscheidung sei „nicht hilfreich“, meinte ein türkischer Diplomat. Tatsächlich kommt die Nachricht aus Eriwan für den türkischen Premier Recep Tayyip Erdogan aber nicht ungelegen. Der türkische Premier steht nicht mehr unter dem Druck, die Ratifizierung der Protokolle trotz des Widerstands der Nationalisten voranzutreiben. Ein Jahr vor der nächsten Wahl ist Erdogan das Thema erst einmal los.

Die armenisch-türkischen Vereinbarungen sahen die Öffnung der Grenze, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Schaffung einer gemeinsamen Kommission zur Untersuchung der Ereignisse von 1915 vor. Armenien begründete den Stopp der Ratifizierung nun mit Erdogans Entscheidung, die türkische Ratifizierung von armenischen Zugeständnissen im Karabach-Konflikt mit Aserbaidschan abhängig zu machen.

Was Armenien tatsächlich bewogen hat, eine neue Eiszeit Richtung Ankara auszurufen, hat aber wohl nur mittelbar mit Berg-Karabach zu tun, jener von Armeniern bewohnten Region in Aserbaidschan, die sich 1988 von Baku lossagte. Als Armenien 1993 auch an Karabach angrenzende aserbaidschanische Gebiete besetzte, um einen Korridor in die Exklave zu öffnen, schloss Ankara aus Solidarität mit dem Partner Aserbaidschan seine Grenzen zu Armenien, das seither seinen gesamten Außenhandel über den Iran abwickeln muss. Diese Schwierigkeit und der ungelöste Karabach-Konflikt verprellten bisher auch westliche Investoren. Auch die Abhängigkeit von Moskau wurde so zementiert

Die eigentlichen Bremser des Prozesses sehen Experten daher in Russland. Moskau unterhält in Armenien eine Truppenbasis – abgesehen von denen in Georgiens abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien die einzige im Südkaukasus –, und russische Unternehmen kontrollieren die armenische Wirtschaft. Die Normalisierung der Beziehungen zu Ankara passt Moskau daher überhaupt nicht ins Konzept.

Als Armeniens Präsident Serge Sarkisjan vor wenigen Tagen in Moskau mit dem russischen Staatschef Dmitri Medwedew zusammentraf, ließ der Gastgeber laut Beobachtern durchblicken, dass der Kreml bei einer Westdrift Armeniens künftig Aserbaidschan unterstützen könnte. Zumal dessen Regierung bei Verhandlungen über den Verkauf des Löwenanteils seiner Gasförderung an Russland zunehmend Kompromissbereitschaft signalisiert. Das Projekt für die Gaspipeline Nabucco, mit der die EU ihre Abhängigkeit von Russland mindern will, wäre dann gescheitert. Zur Freude Moskaus.

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