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Gwendolyn Sasse ist seit Oktober wissenschaftliche Direktorin des ZOiS.

© privat

Neues Zentrum für Osteuropastudien in Berlin: Blick nach Osten

In Berlin hat das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien die Arbeit aufgenommen. Direktorin Gwendolyn Sasse will Forschung betreiben und der Politik Expertise liefern.

Als Gwendolyn Sasse vor Kurzem von Oxford nach Berlin zog, war sie beeindruckt von der Debattenkultur in der Hauptstadt. Fast zwei Jahrzehnte hat die 44-jährige Politikwissenschaftlerin in Großbritannien gelebt. Zu ihrem Fachgebiet Osteuropa gebe es in Berlin nicht nur mehr Veranstaltungen als in London, die Debatten seien auch nuancierter und facettenreicher als in ihrer langjährigen Wahlheimat, sagt sie. Künftig wird es Gwendolyn Sasses Aufgabe sein, in diesem Diskurs eigene Akzente zu setzen. Denn Sasse ist die wissenschaftliche Direktorin des neuen Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin, das im kommenden Jahr offiziell eröffnet wird.

Schon im Koalitionsvertrag hatten sich Union und SPD 2013 verständigt, die „Russland- und Osteuropakompetenz in Deutschland auf eine solide Grundlage“ zu stellen. Der Bundestag beschloss im Dezember 2015 die Gründung eines Instituts für Osteuropaforschung. Zwischen den beiden Beschlüssen war angesichts der russischen Intervention in der Ukraine überdeutlich geworden, wie dringend Expertise in diesem Bereich gebraucht wird. Denn seit dem Ende der Sowjetunion war die Forschung zum postsowjetischen Raum Opfer von Sparmaßnahmen geworden. Russland befand sich auf einem Reformweg, der unumkehrbar schien, und die Staaten Mittel- und Osteuropas schlossen sich EU und Nato an. Experten, die die inneren Vorgänge im Kreml deuten konnten, waren plötzlich nicht mehr gefragt, und Wissenschaftler mit Ukraine-Kenntnissen galten selbst in der spezialisierten deutschen Forschungslandschaft schon fast als Exoten. Das Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln wurde im Jahr 2000 geschlossen. Die Universitäten besetzten frei werdende Lehrstühle nicht nach. Während die Osteuropäische Geschichte noch vergleichsweise gut aufgestellt ist, fehlt es an Politik- und Sozialwissenschaftlern, die speziell zu der Region arbeiten.

Steinmeier hofft auf mehr Verständnis für Nachbarn

Deshalb will die Bundesregierung nun gegensteuern: „Mit der Gründung eines eigenständigen Instituts für Osteuropaforschung wollen wir eine Lücke in der deutschen politikwissenschaftlichen Gegenwartsforschung schließen“, sagte Außenminister Frank-Walter Steinmeier dem Tagesspiegel. Von dem neuen Zentrum erhofft sich der Minister, „dass es uns ein besseres Verständnis unserer Nachbarn in Russland, Osteuropa, im Südkaukasus und in Zentralasien vermittelt“. Das Auswärtige Amt finanziert das ZOiS zunächst mit 2,5 Millionen Euro pro Jahr, später soll sich das Zentrum auch um Drittmittel bemühen. Es werde „gegenwartsbezogene Forschung“ betreiben, um gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Prozesse in der Region wissenschaftlich zu erfassen und Hintergrundwissen zu aktuellen Entwicklungen zur Verfügung zu stellen, heißt es im Auswärtigen Amt. Das Konzept für das Zentrum wurde auf Initiative und mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde erarbeitet.

Noch ist Gwendolyn Sasses kleines Team provisorisch im „Ming Center“ unweit der chinesischen Botschaft untergebracht, bis die vorgesehenen Räume in der Mohrenstraße 60 bezogen werden können. Die offizielle Eröffnung ist für Ende März geplant.

Sasse sieht ihr Zentrum zwischen den Universitäten auf der einen und den Think Tanks auf der anderen Seite angesiedelt: „Wir widmen uns der wissenschaftlichen Forschung, der Nachwuchsförderung und dem Transfer von Expertise in Politik und Öffentlichkeit.“ Aber anders als die Hochschulen bildet das neue Zentrum nicht selbst Studierende aus, und anders als die Think Tanks kann und soll das ZOiS nicht kurzfristige Expertisen erstellen. „Wir planen Tiefenanalysen über einen längeren Zeitraum“, sagt Sasse, die seit 2007 an der Universität Oxford Vergleichende Politikwissenschaft gelehrt hat. Die ersten Projekte sind auf zwei Jahre angelegt.

Pilotprojekte in der Ukraine - und in Berlin

In der Ukraine wollen die Wissenschaftler erforschen, wie sich der Krieg, die Auseinandersetzung um die Annexion der Krim und die Erfahrung der Flucht auf die politischen Identitäten der Menschen auswirken. Dafür werden im ganzen Land, auch auf der Krim und in den Separatistengebieten im Donbass, Meinungsumfragen durchgeführt. Flüchtlinge aus dem Donbass, die heute in der Ukraine und in Russland leben, sollen für das Projekt ebenfalls befragt werden. Es wäre die erste Umfrage dieser Art in der Region seit dem Beginn des Krieges. In einem weiteren Pilotprojekt wird die Lokalpolitik in der Ukraine untersucht und gefragt, inwieweit es einen „Wandel von unten“ gibt. Dabei arbeitet das Berliner Zentrum mit jungen ukrainischen Wissenschaftlern zusammen. „Wir wollen nicht nur über die Region forschen, sondern mit der Region“, sagt Sasse.

Ein drittes Pilotprojekt beschäftigt sich unter dem Titel „Osteuropa bei uns“ mit in Berlin lebenden Migranten und Aussiedlern aus Russland, der Ukraine, Polen und anderen Ländern der Region. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen wollen untersuchen, welche Verbindungen diese Menschen noch zu ihrem Heimatland haben und wie sich der Ukraine-Konflikt auf die Beziehungen unter den Migrantengruppen auswirkt.

Den Projekten ist gemeinsam, dass aktuelle Ereignisse wie der Krieg in der Ukraine oder die Demonstrationen von Russlanddeutschen nach Berichten in russischen Medien über ein angeblich vergewaltigtes Mädchen in Berlin als Ausgangspunkte dienen, die dann aber in eine tiefergehende Analyse münden.

Die Gründungspläne sorgten bei manchen, die sich schon lange in der universitären Osteuropaforschung oder in Think Tanks mit der Region beschäftigen, für Kopfschütteln und Kritik. Die einen fragten, warum nicht einfach etablierte Forschungseinrichtungen gestärkt würden, andere warnten davor, bestehende Strukturen zu duplizieren. Natürlich weiß man im ZOiS um diese Vorbehalte. Das neue Zentrum sucht nun das Gespräch mit anderen Institutionen. Sasse hofft zugleich, dass es in Zukunft ein „präsenter Akteur“ in der deutschen Debatte zu Osteuropa werden kann.

Dieser Text erschien am 13. Dezember 2016 in der "Agenda", einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint.

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