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Lin Hsin-yi, Aktivistin von der NGO Taiwan Alliance to End the Death Penalty, steht vor Fotos aus einem Todestrakt.

© Foto: Tsp/David Demes (Lin Hsin-yi)

NGO kämpft gegen Todesstrafe: Der lange Schatten der Diktatur in Taiwan

80 Prozent der Taiwanesen sind für die Todesstrafe, betrachten sie als notwendig. Eine kleine Aktivistengruppe kämpft dagegen – und wird massiv angefeindet.

Von David Demes

Ein unscheinbares Wohngebäude in einer Seitengasse im Zentrum von Taipeh beherbergt die wohl meistgehasste Nichtregierungsorganisation (NGO) Taiwans. Im dritten Stock sitzt Luo Li-han (28) in einem zum Büro umfunktionierten Wohnzimmer an ihrem kleinen, mit Akten vollgestellten Schreibtisch. Schon den ganzen Tag nimmt sie wütende Anrufe entgegen. Die meist männlichen Anrufer schreien teils so laut, dass Luo den Telefonhörer von ihrem Ohr weghalten muss. Die Aktivistin ist Hass und Häme gewohnt, aber was ihr nun entgegenschlägt, macht selbst ihr zu schaffen.

Nach dem brutalen Mord an zwei Polizisten im südtaiwanesischen Tainan Ende August stehen bei der Taiwan Alliance to End the Death Penalty (TAEDP) wochenlang die Telefone nicht still. Ein Häftling im offenen Vollzug hatte sich nach einem Freigang nicht zurückgemeldet. Als ihn zwei Beamte auf einem Friedhof stellen wollten, stach er beide mit einem Messer nieder. Nach einer landesweiten Fahndung konnte der Verdächtige binnen 17 Stunden im Norden des Landes verhaftet werden.

Luo Li-han arbeitet seit dreieinhalb Jahren bei der kleinen NGO in Taiwans Hauptstadt. Mit ihren Kolleg:innen setzt sie sich für die Rechte von zum Tode Verurteilten und die Abschaffung der Todesstrafe ein. Es ist ein undankbarer Job. Denn Taiwans Gesellschaft steht mehrheitlich hinter der Strafform. Eine Tatsache, die so gar nicht zum progressiven Bild der Vorzeigedemokratie zu passen scheint. In Umfragen sprechen sich regelmäßig mehr als 80 Prozent der Befragten für die Beibehaltung der Todesstrafe aus.

In den 1950er Jahren wurde die Todesstrafe besonders oft angewendet. Innerhalb weniger Jahre wurden damals so viele Leute hingerichtet wie in den 48 Jahren von 1962 und 2010 zusammen.

Philosophie-Professorin Chen Jau-hwa von der Soochow-Universität in Taipeh

Und das obwohl staatliche Hinrichtungen in Taiwan eine dunkle Geschichte haben. „Vor der Demokratisierung des Landes in den 1990er Jahren wurde die Todesstrafe immer wieder von verschiedenen Regimen eingesetzt, um ihre Herrschaft zu konsolidieren“, erklärt Chen Jau-hwa von der Soochow-Universität in Taipeh. Die Philosophie-Professorin forscht zu Vergangenheitsbewältigung und Menschenrechten in Taiwan.

Sowohl die bis 1945 herrschenden japanischen Kolonialisten als auch die chinesischen Nationalisten (KMT), die von 1945 bis 1949 auf die Insel kamen, hätten die Todesstrafe genutzt, um den Widerstand in der taiwanesischen Bevölkerung zu brechen, sagt Chen. „In den 1950er Jahren wurde die Todesstrafe besonders oft angewendet. Innerhalb weniger Jahre wurden damals so viele Leute hingerichtet wie in den 48 Jahren von 1962 und 2010 zusammen.“

Auch nach der Demokratisierung, bis weit in die 2000er Jahre hinein, wurden vereinzelt Verdächtige gefoltert und zu Geständnissen gezwungen. Ein perfekter Nährboden für Justizirrtümer. Zum Beispiel im Fall Cheng Hsing-tse. Für den Mord an einem Polizisten wurde der Mann aus Taichung 2002 zum Tode verurteilt. Wichtigstes Beweisstück: ein erzwungenes Geständnis. Jahrelangen Bemühungen von Menschenrechtsgruppen und Chengs Anwälten war es zu verdanken, dass sein Verfahren 2016 wieder aufgerollt und er freigesprochen wurde.

4914
Tage in der Todeszelle verbrachte Cheng Hsing-tse – unschuldig.

Chengs Fall war es, der Luo Li-han dazu inspirierte, sich für die Abschaffung der Todesstrafe zu engagieren. „Als ich im Studium das erste Mal von seinem Fall gehört habe, war Hsing-tse noch im Gefängnis“, erinnert sie sich. Insgesamt verbrachte er 5231 Tage in Haft, 4914 davon in der Todeszelle.

Dass die meisten Taiwanesen trotz der Bemühungen der Inselrepublik, ihre autoritäre Vergangenheit aufzuarbeiten, bis heute an der Todesstrafe festhalten, erklärt Forscherin Chen Jau-hwa mit der Macht der Gewohnheit: „Die Taiwanesen haben in den vergangenen 100 Jahren immer unter Systemen gelebt, in denen es die Todesstrafe gab.“ Viele betrachteten die Todesstrafe als wichtigen Bestandteil der Rechtsordnung. Wenn über die Todesstrafe gesprochen wird, dann meist im Kontext eines aktuellen Kriminalfalles, etwa des Polizistenmordes in Tainan im August. „Keine guten Voraussetzungen für eine ergebnisoffene Diskussion“, sagt Luo.

Bei einer Demonstration in Taipeh im Jahr 2016 forderten Hunderte, die damals ausgesetzte Todesstrafe wiedereinzuführen.

© Foto: epa/dpa/Ritchie B. Tongo

Während die Fahndung noch lief, äußerte sich Taiwans Parlamentspräsident You Si-kun von der liberalen DPP sichtlich erregt zu dem Fall: „Der Täter muss zum Tode verurteilt werden!“ Eine direkte Einmischung in ein laufendes Verfahren. Einen Tag später erscheint You wieder vor den Kameras. Diesmal steht er neben der Schwester eines der Opfer. Überwältigt von Wut und Trauer beschreibt sie grafisch, wie ihr kleiner Bruder verblutet sei. You stützt und ermutigt die Frau, da bricht es aus ihr heraus: „Die Anti-Todesstrafe-Gruppen sollen zur Hölle fahren!“

Die Leute kennen Hsin-yi aus den Medien. Viele Kommentare und Beschimpfungen richten sich daher gegen sie persönlich.

Aktivistin Luo Li-han

Der Beginn einer tagelangen Hetzjagd auf die TAEDP und deren Geschäftsführerin Lin Hsin-yi. „Die Leute kennen Hsin-yi aus den Medien. Viele Kommentare und Beschimpfungen richten sich daher gegen sie persönlich“, sagt Luo Li-han und betont, dass sie froh sei, nur in der zweiten Reihe zu stehen. Lin Hsin-yi geht schon lange nicht mehr persönlich ans Telefon. „Dafür beantworte ich die Türklingel“, ruft sie quer durch das kleine Büro. Früher stand die Tür der NGO immer offen. Seit dem Mord an den Polizisten bleibt sie aus Sicherheitsgründen geschlossen. Luo sagt, sie habe zum ersten Mal Angst, abends alleine im Büro zu bleiben.

Gegenüber Medien und Politik erhebt Geschäftsführerin Lin schwere Vorwürfe: „Die führen eine Kampagne gegen unsere Organisation, um von den wirklich wichtigen Themen abzulenken“, sagt sie: „Wie können wir das Training für junge Polizisten verbessern? Wie verhalte ich mich als Polizist in so einer Gefahrensituation am besten? Was hat die Polizei vielleicht falsch gemacht?“ Taiwan habe schon zu viele Chancen verpasst, diese Themen ernsthaft zu diskutieren.

In der Amtszeit der seit 2016 regierenden, als progressiv geltenden Präsidentin Tsai Ing-wen wurden bisher zwei Todesurteile vollstreckt. 

© Foto: Reuters/Ann Wang

Dabei war das Land schon mal weiter. Nach dem ersten demokratischen Regierungswechsel im Jahr 2000 hatte sich die damalige DPP-geführte Regierung die schrittweise Abschaffung der Todesstrafe zum Ziel gesetzt und von 2006 und 2008 keine Hinrichtungen mehr durchgeführt. Die Nachfolgeregierung des Präsidenten Ma Ying-jeou von der für einen harten Law-and-Order eintretenden KMT nahm die Praxis 2010 wieder auf und ließ bis 2016 insgesamt 31 Menschen hinrichten.

In der Amtszeit der seit 2016 regierenden, als progressiv geltenden Präsidentin Tsai Ing-wen wurden dagegen bisher nur zwei Todesurteile vollstreckt. Tsai hat deren Abschaffung in der Vergangenheit als „universelles Ziel“ bezeichnet. Dennoch wurde auch ihrer Regierung vorgeworfen, das Thema auszunutzen, um Wählerstimmen zu gewinnen. Aktuell wehren sich alle 38 zum Tode Verurteilten Taiwans vor dem Verfassungsgericht gegen die Hinrichtung.

Trotz derAnfeindungen sieht Luo Li-han die Erfahrungen der vergangenen Wochen nicht nur negativ. „Wir haben so eine Möglichkeit, mit Leuten zu kommunizieren und unsere Arbeit zu erklären, die wir sonst nicht erreichen würden.“ Auch einige ihrer Freunde hätten mittlerweile ihre Meinung zur Todesstrafe geändert, sagt die Aktivistin.

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