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Politik: Nichts ist sicher

Irak-Experte hat wenig Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage und fordert eine Verlegung der Truppen

Fast 25 000 Zivilisten sollen seit der amerikanisch-britischen Invasion des Irak getötet worden sein. Das ist das Ergebnis einer neuen Studie der Organisation „Body Count“ und der Oxford Research Group, die Medienberichte auswertete und in Krankenhäusern und Leichenhallen recherchierte. Nach dem Bericht gehen 37 Prozent auf das Konto der ausländischen Truppen, zumeist schon während der Invasion. Elf Prozent der Opfer wurden von „unbekannten Agenten“ – also Selbstmordattentätern und Autobomben – getötet. Neun Prozent gehen demnach auf das Konto der Aufständischen, die ausländische Truppen und irakische Regierungseinrichtungen angreifen. Ein Drittel, fast 9000 Menschen, fielen normaler Kriminalität wie Raubüberfall, Entführung und Kämpfen zwischen Gangs zum Opfer, die keine Verbindung zur Besatzung oder dem so genannten Widerstand hat.

Unterdessen bekamen in der vergangenen Woche die Überlegungen, ausländische Truppen aus einigen Landesteilen abzuziehen, wieder neuen Auftrieb. Der irakische Ministerpräsident Ibrahim al-Dschafaari schlug den Abzug der US- Streitkräfte aus ausgewählten Städten vor. Er sprach sich jedoch gegen einen vollständigen vorzeitigen Abzug aus. Auch das US-Repräsentantenhaus lehnte am Mittwoch einen baldigen Rückzug aus dem Irak ab. Der britische Verteidigungsminister John Reid bestätigte in der vergangenen Woche, dass Großbritannien seine Truppen in den kommenden zwölf Monaten reduzieren wolle. Der Leiter der Nahostabteilung der angesehenen International Crisis Group (ICG), Joost Hiltermann, verwies darauf, dass die Abzugspläne nur Provinzen betreffen, in denen es kaum Gewalt durch Aufständische gebe. In drei Provinzen seien die ausländischen Truppen sowieso nur an der Grenze präsent. „Die Gewalt findet nicht in den Provinzen statt, welche für einen Abzug der ausländischen Truppen im Gespräch sind“, sagte der in Amman ansässige Irak-Experte dem Tagesspiegel. In den vier von Sunniten dominierten Provinzen und Bagdad seien dagegen mehr Truppen nötig. Er betont, dass der Aufbau von Polizeikräften auf lokaler Ebene fast wichtiger sei für die Herstellung eines Rechtsstaats als die Armee. Der neue Bericht über die Zahl der getöteten Zivilisten scheint dies zu bestätigen. Eine Studie des Pentagons, über welche die „New York Times“ berichtete, zeigt, dass die Hälfte der Polizeieinheiten noch im Aufbau und nicht einsatzfähig ist. Die andere Hälfte der Polizei und zwei Drittel der irakischen Armee seien nur „teilweise“ in der Lage, gegen die Aufständischen vorzugehen, heißt es in dem Geheimpapier weiter.

Nach Ansicht des Nahostdirektors der ICG, Hiltermann, sind zwei weitere Faktoren nötig, um die Gewalt einzudämmen: „ein transparenter und als legitim angesehener politischer Prozess“ sowie wirtschaftlicher Wiederaufbau, den möglichst viele Iraker zu spüren bekommen. Skeptisch zeigt sich Hiltermann im Hinblick auf die Politik. Die Politiker verfolgten ihre eigenen Interessen und hätten die Sunniten nur widerwillig in die Debatte über die Verfassung eingebunden, auf Druck der USA und des schiitischen Geistlichen Ali Sistani. Doch gehe es ihnen dabei weniger um die Stabilität Iraks als um kurzfristige politische Deals: Die Schiiten suchten die Unterstützung der Sunniten in der Kirkuk-Frage, um zu verhindern, dass die ölreiche Stadt an die Kurden fällt. Die Kurden wiederum bräuchten die Kooperation mit den Sunniten, um ihren Minderheitenstatus gegenüber der schiitischen Bevölkerungsmehrheit zu stärken. Hiltermann hält es für „sehr gefährlich“, eine Verfassung durchzupauken, in der wichtige Details offen gelassen würden, weil keine Einigung erzielt werden konnte.

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