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Nikos Dimou, Philosoph: "Griechenland ist keine mündige Nation"

Der Philosoph Nikos Dimou über das schwere Erbe Platons und Aristoteles’ und die Macht der Behörden in und über sein Land.

Herr Dimou, ein griechisches Sprichwort sagt: Griechenland stirbt nie …

Das ist kein Sprichwort sondern der Text eines Militärmarsches – ein nationalistischer Refrain, der die Moral stärken soll. Ich glaube nicht, dass dies jemals ein Sprichwort werden wird. Denn Sprichworte sind klüger als Märsche.

Aber wie steht es denn um die Moral der Nation?

Die Lage ist sehr ernst. Ich glaube, auch die informierten Griechen haben noch gar nicht verstanden, wie ernst sie ist. Man kann es mit einer hoch verschuldeten Familie vergleichen, die davor Angst haben muss, dass jeden Moment der Gerichtsvollzieher kommt und alles mitnimmt. Uns gehört nicht einmal der Stuhl, auf dem wir sitzen – Griechenland gehört uns nicht mehr. Und das Schlimmste: Dies ist nicht eine prekäre Situation, die in ein paar Jahren vorüber sein wird. Ich fürchte, das wird lange dauern.

Eines Ihrer Bücher heißt „Das Unglück, ein Grieche zu sein“. Sind Sie im Moment ein unglücklicher Grieche?

Ich war immer ein unglücklicher Grieche. Das Buch ist zwar schon 35 Jahre alt, aber seine These hat viel mit der gegenwärtigen Krise zu tun: Wenn wir das Glück definieren als den Abstand zwischen dem, was wir wünschen und dem, was ist, dann war dieser Abstand für die Griechen immer sehr groß. Denn sie wollen alles. So ist ihr Charakter, das ist ihre Überschwänglichkeit , ihr Temperament. Aber ihnen wird wenig gegeben. Und sie sind unglücklich, weil sie ein Identitätsproblem haben. Sie wissen nicht wirklich, wer sie sind. Sie sagen, sie seien Europäer, aber sie fühlen sich nicht als Europäer. Sie sagen, dass sie die Nachkommen der alten Griechen sind, die Kinder des Aristoteles und des Platon. Aber zugleich ist da etwas, das sie bedrückt. Man fühlt sich wie der Sprössling eines Nobelpreisträgers, der in der Schule keine guten Noten hat. Die Deutschen sind daran nicht unschuldig, wenn man bedenkt, wie Winckelmann & Co. die griechische Antike quasi neu erfunden und zu einem Idealbild der Vollkommenheit verklärt haben. Das ist eine schwere Bürde. Ich glaube, kein Volk könnte einem solchen Anspruch gerecht werden.

Sie verfolgen die deutschen Medien, in denen ihre Landsleute mitunter als „Pleite-Griechen“ hingestellt und aufgefordert werden, erst mal ihre Inseln zu verkaufen …

Das ist unfair. Ja, die Griechen haben sehr viel falsch gemacht. Aber jene, die heute Kritik üben, messen uns mit Maßstäben, die nicht gerecht sind. Wir haben nicht dieselbe Vorgeschichte wie die Deutschen oder die Franzosen. Wir sind eine sehr junge Nation. Wir haben in unserer Geschichte als Nation immer unter einem allmächtigen Staat gelebt, ob es nur der byzantinische war, der osmanische oder später der eigene griechische. Es gab in Griechenland nie ein Bürgertum. Selbst nach der Befreiung von den Türken war unsere Gesellschaft sehr lange feudal geprägt. Man kann ein Land, dass eigentlich erst 100 Jahre Geschichte hat und davon nur 30 Jahre ungestörtes demokratisches Leben, nicht mit denselben Kriterien messen wie die europäischen Länder. Man muss kritisieren, aber man muss auch verstehen.

Gibt es in anderen europäischen Ländern mehr Verständnis für die Griechen als in Deutschland?

Die britischen Medien sind ironisch, die Franzosen schwanken zwischen Mitleid und Solidarität, aber die Deutschen sind verärgert. Mich erinnert das an zwei Tanten, die ich hatte. Sie waren sehr puritanisch und regten sich über den „unmoralischen“ Lebenswandel der jungen Mädchen auf. Mich hat die Bosheit dieser Tanten als Kind sehr empört. Was trieb sie: War es Hass, oder war es Neid, weil diese Tanten nicht sehr viel vom Leben gehabt hatten? Ich will nicht sagen, dass die Deutschen neidisch sind auf die Lebensart der Griechen. Aber vielleicht spielt das auch ein kleine Rolle.

Manche werfen den Griechen vor, sie lebten auf Kosten Europas.

In gewisser Weise stimmt das. Die EU hat uns viel Geld gegeben. Kein Europäer hat sich zunächst dafür interessiert, was wir mit diesem Geld gemacht haben. Die Griechen waren nicht daran gewöhnt, dass man ihnen Geld gab, ohne Kontrolle auszuüben. Sie haben sehr schnell gemerkt: Die blöden Europäer geben uns Geld ohne zu überprüfen, was wir damit machen. Also kaufen wir uns mit dem Geld einen Cayenne oder einen Range Rover. Die Europäer haben gedacht, wir seien eine mündige Nation. Das waren wir nicht.

Jetzt haben Sie die EU und den Internationalen Währungsfonds zum Vormund. Wird das helfen?

Ich bin sehr skeptisch. Das größte Problem Griechenlands ist die öffentliche Verwaltung – eine Million Beamte! Österreich, das genauso groß ist, kommt mit 150 000 aus – und die Österreicher sind auch Bürokraten. Unsere Verwaltung ist nicht nur riesig, sondern auch völlig korrupt. Nicht einmal die Obristendiktatur hat es geschafft, sich gegen sie durchzusetzen. Sie hat versucht, die Unkündbarkeit der Staatsbediensteten abzuschaffen, ist damit aber gescheitert. Die Bürokraten haben sogar die Panzer besiegt! Jetzt kommen die Europäer und die Leute vom IWF und geben uns Befehle, denn darum handelt es sich doch: Befehle! Aber deren Umsetzung hängt von hunderten Behörden ab. Und wenn die nicht kooperieren wollen oder können, was wird dann?

Sie beschreiben uns ein unregierbares Land …

Ja, das beschreibe ich. Aber ich hoffe, dass diese Krise der Anfang einer neuen Epoche für Griechenland ist. Zugleich fürchte ich, es wird sehr schwierig sein. Denn es gibt in manchen Köpfen verrückte Ideen. Nehmen Sie Mikis Theodorakis, der gestern wieder von der angeblichen internationalen Verschwörung gegen Griechenland erzählt hat – eine fixe Idee: dass die ganze Welt Komplotte gegen Griechenland schmiedet. Das ist nicht nur absurd, sondern auch eine groteske Selbstüberschätzung.

Haben die Griechen über ihre Verhältnisse gelebt?

Ja. Griechenland ist ein armer Staat mit reichen Bürgern. Die Schattenwirtschaft macht nach Schätzungen rund 40 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Das erklärt, warum der griechische Staat pleite ist. Denn wenn unser Bruttoinlandsprodukt 40 Prozent größer wäre, wären alle unsere Probleme automatisch gelöst. Zum ersten Mal macht jetzt die Regierung den ernsthaften Versuch, die Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Ich hoffe, sie hat Erfolg.

Wie würden Sie die Stimmung in ihrem Land beschreiben?

Angst, Depression, Unsicherheit. Ob das in einem bestimmten Moment in noch gewalttätigere Proteste umschlägt, kann man noch nicht sagen.

Wie sieht Griechenland in drei Jahren aus?

Ich wage die Prognose, dass Griechenland in drei Jahren besser dastehen wird als jetzt. Aber das ist leicht gesagt. Denn jetzt ist alles sehr schlecht. Und in einem Jahr wird es noch schlechter sein. Denn dann werden alle Sparmaßnahmen wirklich erlebt. 2011 wird das schlimmste Jahr. 2013 müsste es besser sein als jetzt. Aber ob es gut sein wird, daran zweifle ich.

Das Interview führte Gerd Höhler.

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Zur Person

DER VORDENKER

Nikos Dimou, geboren 1935 in Athen, ist einer der bekanntesten griechischen Intellektuellen. Er studierte französische Philologie in Athen sowie Philosophie und englische Philologie in München. Seit 1953 hat er über 60 Bücher veröffentlicht. Einer seiner Besteller ist die 1975 erschienene Aphorismen-Sammlung „Das Unglück, ein Grieche zu sein“.

DER VORLAUTE

Dimou ist ein streitbarer Zeitgenosse, der keine Tabus kennt, wenn er Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in seinem Heimatland übt. Vor allem die Neigung seiner Landsleute, Missstände mit Verschwörungstheorien zu erklären, reizt ihn immer wieder zu Widerspruch. Schon 1977 erregte er mit einem Interview im deutschen „Spiegel“ Aufsehen, in dem er mit der RAF-Verehrung und damit verbundene Deutschfeindlichkeit vieler Griechen abrechnete. Dafür erntete er Daheim zwar massive Kritik und wurde sogar als Nazi beschimpft. Nachdrucken wollte das Interview aber niemand. Dimou musste es selbst übersetzen und verbreiten, um die Diskussion wieder zu versachlichen.

DER VORBLOGGER

Als sein wichtigstes Hobby gibt Dimou Computer an. Deshalb ist er stolz darauf, als erster griechischer Schriftsteller schon 1997 mit einer eigenen Homepage im Internet vertreten gewesen zu sein (ndimou.gr). Inzwischen ist er dort auch auch als Blogger unterwegs: nikosdimou.blogspot.com/doncat.blogspot.com

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