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Politik: Nordirland: Ritterspiele und Plastikkugeln

Die ungezügelte Wut von Katholiken hat sich in der Nacht zum Freitag über den Helmen der nordirischen Polizei entladen. Stundenlang attackierten die überwiegend jugendlichen Randalierer im Ardoyne-Viertel von Nord-Belfast die Beamten mit etwa 250 Brandbomben, Säurekanistern und Wurfgeschossen.

Die ungezügelte Wut von Katholiken hat sich in der Nacht zum Freitag über den Helmen der nordirischen Polizei entladen. Stundenlang attackierten die überwiegend jugendlichen Randalierer im Ardoyne-Viertel von Nord-Belfast die Beamten mit etwa 250 Brandbomben, Säurekanistern und Wurfgeschossen. Laternenpfähle wurden mit Stahlschneidern umgesägt, Straßen blockiert. Die Polizei setzte zwei von den belgischen Behörden ausgeliehene Wasserwerfer ein und verschoss rund 50 Plastikkugeln. Die Bilanz der blutigen Auseinandersetzungen: Rund 100 Beamte erlitten Verletzungen, 16 von ihnen brauchten vorübergehend ärztliche Pflege; bei den Zivilisten lagen keine Zahlen vor.

Den Anlass für die wüsten Ausschreitungen, an denen ausnahmsweise kaum Protestanten beteiligt waren, hatte eine Gruppe von Mitgliedern des protestantischen Oranier-Ordens geliefert. Die Protestanten kehrten auf einer bewilligten Route vom Hauptumzug des Tages nach Hause zurück. Bei dieser Gelegenheit nahmen die katholischen Anwohner Rache für eine Blockade ihrer Schule durch protestantische Nachbarn - und setzten sich auf die Straße. Als die Polizei dann - nach übereinstimmenden Angaben mit unverhältnismäßiger Gewalt - den Weg freiräumte, loderten die Unruhen auf. Übereinstimmend wurden die Krawalle als die schlimmsten seit fünf Jahren bezeichnet.

Der nordirische Polizeikommandant beschuldigte die Unruhestifter einer gezielten Aktion und ließ durchblicken, dass er die IRA im Verdacht hatte. Umgekehrt rügten gemäßigte katholische Politiker die Verhältnismäßigkeit des Polizeieinsatzes.

Auch an anderen kritischen Punkten Nordirlands kam es in der Nacht zum Freitag nach den Oranier-Paraden zu Zwischenfällen. Im Belfaster Stadtzentrum lieferten sich Angehörige verfeindeter protestantischer Untergrundkommandos mit Zeremonien-Schwertern und anderen Waffen ein regelrechtes Turnier, in dessen Verlauf das Blut reichlich geflossen sein soll.

Vor diesem gespannten Hintergrund wurden am Freitagabend in England die politischen Verhandlungen über die Zukunft der nordirischen Regierung wieder aufgenommen, die am Mittwoch ergebnislos vertagt worden waren. Die britische Regierung hatte auch die kleinen Parteien wieder eingeladen. Doch die beiden loyalistischen Gruppen, die für die protestantischen Untergrundverbände sprechen, lehnten die Teilnahme ab. Der zurückgetretene Chefminister David Trimble führte damit die einzige unionistische Parteidelegation an - ein deutliches Indiz für den schrumpfenden Rückhalt protestantischer Friedenspolitiker. Beobachter äußerten sich pessimistisch über die Erfolgsaussichten der Verhandlungsrunde, obwohl London einmal mehr von einer letzten Chance sprach. Äußerlich geht es um die Entwaffnung der IRA. Doch es liegt auf der Hand, dass ein Durchbruch nur denkbar ist, wenn auch der britische Truppenabbau und die Polizeireform gleichzeitig befriedigend gelöst werden. Angesichts der erschütternden Aggression gegen die Sicherheitskräfte scheint eine Polizeireform, die auch Sinn Fein und die IRA befriedigt, in unerreichbarer Ferne zu liegen.

Sinn Fein-Präsident Gerry Adams ließ in den letzten Wochen keine Gelegenheit ungenutzt verstreichen, um eine differenzierte Botschaft zu formulieren: Sinn Fein wünscht die Ausmusterung der IRA - aber das kann erst geschehen, sobald eine von allen Seiten gebilligte Polizeitruppe existiert.

Doch die Protestanten pochen auf IRA-Waffen. Und jetzt drängt die Zeit: Da der irische Premierminister Bertie Ahern am kommenden Montag zu einer Südamerikareise aufbricht, wollen die beiden Premierminister dieses Wochenende ein Ergebnis erzwingen. Theoretisch allerdings bleibt noch eine Frist bis zum 11. August, bis ein neuer Regierungschef Nordirlands gewählt werden muss. Andernfalls wird die britische Regierung zwischen Neuwahlen und einer vorübergehenden Rückkehr Nordirlands zur Direktverwaltung wählen müssen.

Martin Alioth

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